Artikelarchiv von Maja Langsdorff
Die folgenden Artikel erschienen am 22. April 2003 in der »Stuttgarter Zeitung«. Die Fotos im
Hauptartikel zeigen mich im Jahr 1977. Mehr dazu auf der Ballettseite. Das
Farbfoto im Kasten für Eltern zeigt die fünfjährige Tochter meiner Halbschwester im April
2003 im unvermeidlichen zartrosa Ballett-Trikot. Auf dem Gruppenfoto ist meine Elevinnenklasse zu sehen.
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Schmerzen gehören zum Klassischen Tanz
Klassisches Ballett kann jeder lehren / Erkenntnisse der Sportwissenschaften könnten vielem Leid vorbeugen
Schmerz gehört zum Alltag, die Bezahlung ist schlecht, die lange Ausbildungszeit steht in keinem Verhältnis zur
Berufserwartung. Professionelle Balletttänzer brauchen viel Idealismus. Ihre Karriere ist kurz. Wer Pech hat,
den entlässt das Theater mit Knochenschwund, Knie- und Hüftschäden ins Leben danach.
von Maja Langsdorff
Eine Tänzerin schwebt im Tutu über die Bühne - ein Traum von Leichtigkeit und Ästhetik. Doch ein Blick hinter
die Kulissen offenbart: Klassisches Ballett ist nicht nur knallharter Leistungssport, sondern auch eine
traditionsverhaftete Disziplin, in die kaum Erkenntnisse der modernen Sportmedizin vordringen, in der durch
Nichtwissen und Ignoranz Verletzungen provoziert werden und Schäden programmiert sind.
Yasmin Arendt, 30, Assistenzärztin für Orthopädie am Offenbacher Klinikum und ehemalige Balletttänzerin, hat
für ihre Dissertation 77 Tänzerinnen und Tänzer untersucht. In den vorangegangenen fünf Jahren hatte diese sich
567 Verletzungen und Überlastungsschäden zugezogen. Am häufigsten waren Lendenwirbelsäule (88%), Kniegelenke
(80,5%) und Sprunggelenke (74%) betroffen. Sie glaubt, korrekte Technik, einfache Hilfsmittel wie Gelenkschutz
und Matten, und genügend Erholungszeiten wären schon eine gute Prophylaxe, »so dass Tanzen per se nicht
gefährlich« sein müsste.
Die Sportmedizinerin Eileen Wanke, 36, plädiert für Ausdauertraining im klassischen Ballett - auch wenn Tänzer
davon nicht begeistert seien. Die Bremerin war bis vor drei Jahren selbst aktiv - »tagsüber war ich Ärztin,
abends stand ich als Schneeflocke auf der Bühne«. Die Belastung im Ballettsaal und auf der Bühne vergleicht
sie mit Sprints, 50 Prozent der Zeit stehe man herum und warte. Mit einer Studie am Stadttheater Bremerhaven hat
sie nachgewiesen, wie wichtig Ausdauertraining ist: »Fehlt die Ausdauer, übersäuert sich der Muskel, die
Koordinationsleistung lässt nach und die Verletzungsanfälligkeit steigt«.
An Erkenntnissen mangelt es also nicht. Wo sie aber nicht umgesetzt werden, wo nach überkommenen Methoden
unterrichtet und ein rigides Körperideal propagiert wird, zerbricht viel Porzellan. »Dabei ist klassisches
Ballett eine einzigartige Symbiose aus Kunst und Sport«, schwärmt Wanke. Es bereite den Körper »wie
keine andere Sportart auf alle Belastungen im Leben vor«. Liane Simmel, 37, Tanzmedizinerin in München
und auch ehemalige Tänzerin, stimmt zu: »Tanz ist die ideale Möglichkeit für Kinder, sich bewegen und
Freude am Körper entwickeln zu lernen, denn es integriert das Künstlerische, Musikalische. Sie lernen, sich
in der Gruppe einzugliedern und müssen sich trotzdem als Individuum anstrengen.« Ballettunterricht fördere
die Koordinations- und Konzentrationsfähigkeit.
Doch nicht nur in den privaten Ballettschulen versperren sich Pädagogen Neuerungen. Seit Jahren schon kämpft
der Berufsverband der Tanzpädagogen für eine staatlich geprüfte und anerkannte Ausbildung, ohne Erfolg. »Tanzpädagoge
kann sich jeder nennen, der Begriff ist nicht geschützt«, moniert die Orthopädin Elisabeth Exner-Grave,
38, Oberärztin in der Rehaklinik Bad Schönborn, ausgebildete Tänzerin und Vorstandsmitglied von TanzMedizin
Deutschland (TaMeD), einem 1997 gegründeten Verein, der sich u.a. das Ziel gesetzt hat, die Tanzmedizin in
tanzbildenden Hochschulen und Ausbildungsstätten zu etablieren.
»Was man in der Sportwissenschaft schon lange weiß, kommt im Tanz einfach nicht an«, kritisiert
Liane Simmel. »Die meisten Pädagogen sind irgendwann der Compagnie entsprungen und schöpfen aus der
eigenen Tanzkarriere«. Ihnen fehle das Knowhow in Pädagogik, Psychologie, Medizin, Ernährungslehre,
Trainingsaufbau. Fortschrittlich und aufgeschlossen seien in Deutschland nur eine Handvoll Schulen, so die
Dresdner Palucca-Schule und die Staatliche Ballettschule in Berlin, wo man - leider alles andere als eine
Selbstverständlichkeit - sogar mit Abitur abschließen könne. In vielen Schulen und privaten Akademien wird
dagegen weiterhin versucht, körperliche Mängel durch Drill und Disziplin zu kompensieren - mit fatalen
Folgen, die von Zerrungen über Ermüdungsbrüche und frühen Knochenverschleiß bis hin zur Magersucht reichen.
Tänzerinnen und Tänzer müssen ihren Körper wörtlich »be-herrschen«. Diäten sind Alltag, Trinken
während des Trainings gilt häufig als Disziplinlosigkeit. Eigentlich müssten gerade Tanzende ein gutes
Verhältnis zu ihrem Körper haben, denn, so Simmel, »wenn ich meinen Körper beherrschen will, muss
ich auch wissen, wie er ungefähr funktioniert - aber anatomische Kenntnisse hat kaum ein klassischer
Tänzer«. Im Ballett lerne man schon in der Ausbildung, dass Schmerz normal ist. »Diese
schmerzverankerte Disziplinierung wird sehr früh impliziert«, ergänzt Elisabeth Exner-Grave,
»das fängt schon mit dem Spitzentanz an.« Yasmin Arendt ermittelte, Tanzende würden so
häufig von körperlichen Beschwerden und Missempfindungen begleitet, dass dies »zum einen zu
einer gewissen Schmerztoleranz, zum anderen auch zu einer Bagatellisierungstendenz« führe.
Exner-Grave: »Man lernt einfach, mit diesem Schmerz zu leben, ihn aber auch teilweise zu
ignorieren. Das ist gefährlich«. Kinder müssten, so Simmel, aber schon in der Ausbildung merken,
dass Schmerzen Warnsignale sind.
Im Klassischen Ballett hat sich der Körper nach dem Ideal zu richten, und das schreibt zum Beispiel
eine besondere Beweglichkeit des Hüftgelenks vor. Die Außenrotationsfähigkeit - im Fachjargon »en
dehors« oder »turn-out« - sollte 60 bis 70 Grad betragen. Der deutsche Durchschnittsbürger
bringt gerade mal 40 bis 50 Grad mit, und Exner-Grave misst auch oft bei deutschen Schülern der
Stuttgarter Crankoschule nicht mehr als 55 Grad. Der Rest der Rotation muss aus dem Knie- und Sprunggelenk
genommen werden, um die klassische 1. Position mit dem 180-Grad-Winkel zwischen beiden Füßen erreichen
zu können, oft um den Preis späterer Meniskus- und Fußgelenksschäden. Dieses Auswärtsideal im Blick wähle
man, so Simmel, »im Endeffekt Körper aus, die auch im normalen Leben schon die Disposition zu einer
Arthrose in der Hüfte haben«.
Götz Lehle, 42, Arzt und Tanzmediziner mit Schauspielervergangenheit, beschäftigt in einem Therapiezentrum
für Künstlerinnen und Künstler bei Freiburg, stört sich mehr am Atmungsideal im Ballett: Die Bauchatmung
ist verpönt, der Rumpf muss so flach wie möglich sein. Die Thoraxbewegung sei zwar erlaubt, »aber nur
Turnvater-Jahn-mäßig nach oben«. Diese unfreie Atmung führe zu Verkrampfungen des Zwerchfellmuskels,
was sich auf den großen Hüftbeugemuskel Iliopsoas auswirke. Das kann Verkürzungen, Verspannungen und die
berüchtigte »schnappende Hüfte« - eine Sehne rutscht spür- und hörbar über den vorderen Teil
des Hüftkopfbereiches - nach sich ziehen.
Viel Leid ließe sich vermeiden, hätten Tanzpädagogen, Trainingsleiter und Choreographen mehr Einsicht und
eine medizinische Vorbildung, und wären auch Tanzende besser informiert. Aus Unkenntnis aber und Angst vor
dem Verlust des Engagements mucken viele nicht auf gegen krankmachende Ideale, wagen gefährliche Sprünge,
tragen unangepasstes Schuhwerk, akzeptieren Bodenbeläge, die den Aufprall nicht absorbieren und anderes mehr -
der Beruf ist Berufung. Immer öfter endet die Karriere schon im dritten Lebensjahrzehnt. Für ein Gehalt von
vielleicht 1400 Euro im Monat (West-Tarif 2b), für das ein Profifußballer wohl kaum ein Bein heben würde, zieht
sich manche/r auch bleibende körperliche Schäden zu: verschlissene Hüftgelenke und Knie, Wirbelsäulen- und
Fußprobleme, Schiefzehen, frühe Osteoporose durch Magersucht und Mangelernährung. Das Aus kommt oft unvorbereitet
durch eine Verletzung. Simmel: »Wenn ich von einem Tag auf den anderen aufhöre, habe ich zum einen keine
sozialen Kontakte mehr, denn was hab ich denn schon außerhalb des Theaters? Zum anderen fühle ich mich in meinem
Körper nicht mehr wohl. Wir wissen von Depressionen, Alkoholproblemen…«. Doch wer tanzt, tanzt und
verschließt vor dem Danach die Augen. Die Münchner Ex-Ballerina, die an ihrer Alkoholsucht starb, ist kein
trauriger Einzelfall.
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