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Stuttgart - für 3 Tage Hauptstadt der Tanzmedizin Gute Tänzer sind oft schwierige PatientenMedizinischer Kongress unter dem Motto »Rückgrat zeigen«Brauchen Tanzende eine speziell auf ihre Bedürfnisse ausgerichtete Medizin? Ja, meinen Fachleute aus Medizin, Therapie und Ballett unisono. In Stuttgart treffen sie sich nun zu einem tanzmedizinischen Symposium. von Maja Langsdorff Stuttgart erwartet Ende Mai 2006 mehrere hundert Fachleute aus Medizin, Therapie und Tanz, die eines verbindet: die Liebe zum Tanz. Die meisten von ihnen haben selbst getanzt, manche sogar professionell. Drei Tage lang tauschen sie sich aus in den Ballettsälen des Stuttgarter Balletts und im Kammertheater. »Rückgrat zeigen« heißt ihr Thema – im medizinischen, aber auch im übertragenen Sinn. Im Blickpunkt steht primär die Wirbelsäule. Diese geniale wie empfindliche Konstruktion bereitet jedem dritten Deutschen, auch ohne zu tanzen, Beschwerden. Professionelle Tänzer setzen sie besonderen, oft extremen Belastungen aus und ziehen sich nicht selten Rückenschäden zu. Wie diese aussehen, wie man ihnen vorbeugen oder sie behandeln kann, solche Fragen greifen die Referenten beim tanzmedizinischen Symposium in Vorträgen und Workshops auf. Den medizinischen Fachbereich »Tanzmedizin« gibt es offiziell zwar nicht, aber einen Verein, der daran arbeitet, dieses Gebiet bekannt zu machen und in die Sportmedizin zu etablieren: Tanzmedizin Deutschland (TaMeD). 1997 von tanzbegeisterten Ärzten, Therapeuten und Tanzpädagogen gegründet zählt TaMeD inzwischen 300 Mitglieder – eine stattliche Zahl, bedenkt man, dass es nur etwa 1500 feste und ebenso viele freie Tanzende an deutschen Bühnen gibt. Dass sie Mediziner und Therapeuten mit Spezialkenntnissen brauchen, steht außer Frage für die 40jährige Ärztin Liane Simmel, TaMeD-Vorsitzende und – zumindest sporadisch – noch immer Tänzerin beim Münchner Opernballett: »Im Ballett gibt es differenzierte Verletzungsmuster und Schäden, die man in anderen Bewegungsarten nicht findet.« In Mitleidenschaft gezogen werden vorrangig Lendenwirbelsäule (88 Prozent), Knie- und Sprunggelenke (80,5 bzw. 74 Prozent), so eine Studie der Orthopädischen Uniklinik Frankfurt. Verstauchungen, Muskelzerrungen, Bänderrisse sind die häufigsten akuten Schäden. Ständige Überbelastung löst chronische Beschwerden aus, etwa Sehnenentzündungen. Nicht selten sind Ermüdungsbrüche, vor allem am Schienbein oder in den kleinen Gelenkfortsätzen der Lendenwirbelsäule. Verbreitet sind Probleme mit dem großen Hüftlendenmuskel, einem der wichtigsten Muskeln des Tänzers überhaupt. Er erst ermöglicht es, ein Bein über 90 Grad hinaus anzuheben. Die im klassischen Tanz geforderte extreme Außenrotation – das »en dehors« – belastet das Hüftgelenk enorm. Ein weiteres tänzerspezifisches Problem: die Entzündung eines Muskels der großen Zehe, des langen Großzehenbeugers. Unzählige Schritte im Tanz werden auf Zehenspitzen (»halbe Spitze«) ausgeführt. In keiner Sportart, auch nicht in der rhythmischen Sportgymnastik oder im Eiskunstlauf, wird dieser Muskel derart beansprucht. Tanzen ist technisch gesehen das Ausführen hochkomplexer Bewegungsabläufe. Doch Orthopäden befassten sich, so Simmel, nur wenig mit Bewegung, es fehle an einer »Bewegungsqualitätskontrolle«. Man brauche »Leute, die sich vermehrt mit Bewegungsabläufen beschäftigen« – am besten natürlich jenen, die im Ballett vorkommen. »Exakt zu wissen, wie ein Unfall geschehen ist, hilft dem Therapeut zu verstehen, was verletzt ist«, erklärt Richard Gilmore, Masseur beim Stuttgarter Ballett und Anatomiedozent an der John-Cranko-Schule. Da Tänzer ihre Schritte und Bewegungen französisch benennen, ist es vorteilhaft, wenn der Arzt oder Therapeut diese Namen kennt und weiß, was Chassée, ein Pas de chat oder ein Temps de cuisse ist. Tänzer seien oft schwierige Patienten, gesteht Liane Simmel ein. Und obwohl sie ihren Körper als Instrument ihrer Kunst einsetzen, fehlen ihnen oft fundamentale anatomische Kenntnisse: Wie sind Muskeln und Bänder aufeinander abgestimmt, wie arbeiten die Gelenke, und wie kann ich effizient und schonend mit ihnen umgehen? Stattdessen lernen sie schon früh, Schmerzen unhinterfragt zu akzeptieren. Doch Schmerz kann ein wichtiges Warnsignal sein, das nicht wegignoriert werden sollte. Viele Tanzende haben Ärzten gegenüber Vorbehalte, weil sie sich nicht verstanden fühlen, besonders wenn ihnen bei Schmerzen geraten wird, sich zu schonen oder das Tanzen aufzugeben. Amerikanische Forscher fanden heraus, dass vier von fünf Tänzern trotz Verletzungen weitertanzen. Professionell zu tanzen bedeutet oft einen Konflikt zwischen dem, was gesund ist und dem, was die Kunst fordert. Die Technik des klassischen Balletts orientiert sich weniger an der menschlichen Anatomie als an der Ästhetik. Tanzen sei eben mit Extrembelastungen verbunden, und die könne immer zu Abnutzungsschäden führen. »Aber das tut jeder Bürojob auch.« 35 Prozent aller Krankschreibungen resultieren aus Rückenschmerzen durch permanentes Sitzen. »Eigentlich sind wir dafür gedacht, 50 Kilometer am Tag zu laufen. Weder einseitiges Sitzen noch Extrembewegungen sind ideal.« Weil Tanzmedizinern die Tanzkunst am Herzen liegt, möchten sie nicht verbieten, sondern aufklären und vermitteln und suchen den Dialog mit Tanzenden wie Pädagogen, Choreographen, Ballettmeistern, Ballettdirektoren. So plädieren sie etwa für regelmäßige prophylaktische Untersuchungen, eine Art »Tänzer-TÜV« alle sechs bis zwölf Monate, in dem Gelenke und Muskeln durchgecheckt werden. Da beim Ballett längere Pausen mit kurzen »Sprints« abwechseln, empfehlen sie ein ergänzendes Ausdauertraining. Je besser die Kondition, desto besser die Leistungsfähigkeit und Koordination – das senkt das Verletzungsrisiko. Und aktives Regenerieren, etwa mit Yoga, Pilates, Alexandertechnik oder Feldenkrais wären ein idealer Ausgleich zur oft einseitigen Belastung im Tänzeralltag. TaMeD würde sich nicht nur technisch perfekte, sondern auch tanzmedizinisch geschulte Tänzer wünschen. Simmel glaubt nicht, dass diese automatisch eine Verweigerungshaltung einnehmen. »Da unterschätzt man ihre Leidenschaft«, sagt sie. »Wenn sie tanzen wollen, tun sie es. Aber sie machen es vielleicht überlegter.« Ob Mitdenken allerdings erwünscht ist, steht dahin. Denn dann würden Tanzende »Rückgrat zeigen« und manchmal etwas unbequem werden. |
Ein Therapeut ist keineswegs LuxusDie schnelle Erstversorgung entscheidet über den HeilerfolgSpitzensportler werden mit großer Selbstverständlichkeit von eigenen Mannschaftsärzten und Therapeuten betreut. Von solchen Privilegien können viele Balletttänzer nur träumen. Statistisch gesehen zieht sich jeder Bühnentänzer eine Verletzung pro Saison zu. Doch kaum ein deutsches Theater mit eigener Ballettkompanie sorgt für die medizinische und therapeutische Betreuung seiner Tänzerinnen und Tänzer, denn das kostet natürlich Geld. Eine der wenigen Ausnahmen bildet das Stuttgarter Ballett. Seit 20 Jahren hat es einen eigenen Masseur: Richard Gilmore. Als ehemaliges Mitglied der Kompanie arbeitete er nach einer Umschulung zum medizinischen Bademeister und Masseur tagsüber im Mineralbad Leuze und machte abends hinter der Bühne einstige Kollegen wieder fit – bis es der früheren Primaballerina und Ballettdirektorin Marcia Haydée gelang, das Ministerium von der Notwendigkeit einer Planstelle für einen Ballettmasseur zu überzeugen. Was hierzulande die Ausnahme ist und vielerorts von der Intendanz offenbar als unnötiger Kostenfaktor erachtet wird, hat sich in anderen Ländern wie den Niederlanden oder Australien längst etabliert. Wer beobachtet, wie sich die Tänzer in Bademantel und Schläppchen bei Gilmore die Türklinke in die Hand geben, begreift, dass ein eigener tanzmedizinisch versierter Therapeut kein Luxus ist. Tanzen ist bewegte Kunst, aber auch harter Leistungssport. Die hohen technischen Anforderungen fordern ihren Tribut: Eine Studie besagt, dass nur 18 Prozent der professionellen Tänzer nie schwere Schädigungen erlitten haben. Anders als im Sport aber trainieren Tänzer nicht auf einen Wettkampf hin. Im Tanz haben sie eine Dauerbelastung über eine Zeitstrecke von elf Monaten. So bestreiten die etwa 65 Mitglieder des Stuttgarter Balletts hier und auf Tourneen pro Spielzeit gut und gern 125 Vorstellungen – jede eine Art Wettbewerb mit Höchstleistungen. Und während die meisten Spitzensportler eine überschaubare Zahl von Bewegungen oder Leistungen perfektionieren, verlangen die wechselnden Choreographen und Tanzstile Profitänzern immer neue und komplexe Bewegungsabläufe ab. Verletzungen bleiben da nicht aus. Die jedoch wirken sich auf die ganze Gruppe aus: Tänzer lassen sich nicht wie Fußballspieler in der Halbzeit ersetzen. »Tänzer sind nicht so leicht austauschbar«, erklärt Gilmore. Die Schrittfolgen von Tanzchoreographien sind genau festgelegt, selten ist ein Platz mit dem anderen identisch. Fällt jemand aus, werden ad hoc Proben anberaumt, und genau deshalb ist therapeutische Hilfe vor Ort – also im Theater – so wichtig: »Wie soll ich bei so einem ungewissen Tagesablauf zum Arzt oder Therapeuten?« fragt rhetorisch die Münchner Tanzmedizinerin Liane Simmel. Tänzer haben nicht nur Probleme, Termine außerhalb des Theaters einzuhalten, sie können während der Proben oft nicht einmal den Ballettsaal verlassen, weil sie nicht wissen, wann ihr Einsatz kommt. Richard Gilmore steht ihnen deshalb auch im Ballettsaal zur Verfügung. Bei Vorstellungen steht er hinter der Bühne, um im Notfall sofort eingreifen zu können. Die richtige, schnelle Erstversorgung entscheidet über den Heilungsverlauf und kann die Heilungsphase verkürzen. Externe Sportmediziner und Therapeuten kennen normalerweise nicht die speziellen Bewegungsmuster und –abläufe im Tanz. Das aber würde helfen, im Fall des Falles die korrekte Diagnose zu stellen und einen Tänzer erfolgreich zu behandeln. Henrietta Horn, Leiterin des Folkwang Tanzstudios in Essen, war bei einer Asientournee einmal vor die Wahl gestellt, einen Ersatztänzer oder einen Physiotherapeuten mitzunehmen. Sie entschied sich für den Physiotherapeuten. |
Interessante Links zum Thema:
TanzMedizin Deutschland e.V. (TaMeD), Damstadt
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