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Artikelarchiv von Maja Langsdorff
Der folgende Artikel wurde am 11.9.2001 in der »Stuttgarter Zeitung« veröffentlicht und basiert auf der Neuüberarbeitung meines Buches »Die heimliche Sucht, unheimlich zu essen« - voraussichtlicher Erscheinungstermin Juni 2002. Das Kapitel im Buch ist wesentlich ausführlicher.

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Literatur zum Thema

Material: Jessica beschreibt ihre Erfahrungen und Gefühle mit und bei Selbstverletzungen.

Schnibbeln, um sich wieder zu spüren

Menschen, die sich absichtlich selbst verletzen, versuchen damit häufig nicht bewältigte Schmerzen aus der Vergangenheit aufzuarbeiten

Erst wenn Blut strömt, fühlen sie sich befreit und können wieder aufatmen: Wenn Menschen sich selbst Verletzungen beibringen, dann tun sie dies, um sich körperlich wieder spüren zu können.

von Maja Langsdorff


Nach vorsichtigen Schätzungen gibt es allein in Deutschland bis zu 200.000 Menschen, die sich selbst verletzen. Es sind fast immer Mädchen und Frauen, vorwiegend im Alter zwischen 16 bis 30 Jahren, die sich Wunden zufügen - Jungen und Männer neigen eher zu Gewalttätigkeiten als zu autoaggressivem Verhalten.

Wenn Menschen sich selbst verletzen, dann tun sie dies aus dem Empfinden, die Verbindung und den Zugang zum eigenen Körper verloren zu haben und ihn nicht mehr zu spüren. In ihrer Not schnibbeln und kratzen sich blutig, verbrennen und verätzen ihre Haut.

Hinter selbstschädigendem Verhalten verbergen sich zugleich Hilferuf und Vorwurf an die Umwelt. Wer beispielsweise als Kind vernachlässigt, missbraucht oder verletzt wurde und keine Hilfe gefunden hat, neigt später eher dazu, sich selbst zu schädigen und zu bestrafen. Ohnmächtig und hilflos übernehmen diese Menschen die Anschuldigung des Täters und richten ihre Wut ersatzweise gegen sich selbst, da sie sie nicht gegen den richtigen Adressaten richten und ausleben können.

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Hinter selbstschädigendem Verhalten verbergen sich zugleich Hilferuf und Vorwurf an die Umwelt. Wer beispielsweise als Kind vernachlässigt, missbraucht oder verletzt wurde und keine Hilfe gefunden hat, neigt später eher dazu, sich selbst zu schädigen und zu bestrafen. Ohnmächtig und hilflos übernehmen diese Menschen die Anschuldigung des Täters und richten ihre Wut ersatzweise gegen sich selbst, da sie sie nicht gegen den richtigen Adressaten richten und ausleben können.

Nicht selten gehen Selbstverletzungen mit abhängigem Verhalten einher. Jede dritte Frau, die sich selbst verletzt, leidet auch unter Ess-Brech-Sucht, und auch unter magersüchtigen Mädchen zwischen 13 bis 17 Jahren sind Selbstverletzungen relativ häufig. Essstörungen fungieren als Ventil, sich Erleichterung von einem unerträglichen inneren Druck zu verschaffen, und sie sind im Grunde auch eine Form der Selbstschädigung. Wenn irgendwann die negative Gefühle - Ängste, Zweifel, Depressionen, Wut - übermächtig werden und der innere Druck nicht mehr durch Essen und Erbrechen abgebaut werden kann, dann brauchen manche Betroffenen drastischere Mittel. Nicht bewältigte Schmerzen aus der Vergangenheit versuchen sie praktisch durch aktuelle Schmerzen aufzuarbeiten und abzubauen. Und erst wenn Blut fließt, haben sie die Empfindung, sich selbst wieder zu spüren. Dieses Spüren stellt sich oft mit Verzögerung ein; erst Minuten oder Stunden später schmerzt die Wunde.

Selbstverletzungen werden oft wie eine Zeremonie inszeniert und zelebriert: Messer und Rasierklingen werden akkurat auf einem Samttuch an einem bewusst ausgewählten Ort ausgebreitet, Störquellen werden ausgeschaltet, Musik läuft im Hintergrund. Selbstverletzerinnen schaukeln nicht selten in einen tranceähnlichen, ekstatischen, der sie zunächst keine Schmerzen spüren lässt, ihnen aber zu dem ersehnten Kick verhilft.

Selbstverletzendes Verhalten (SVV) ist keine eigenständige seelische Erkrankung, sondern Symptom und Ausdruck einer schweren psychischen Krankheit an der Grenze zur Psychose, etwa einer Borderline- oder Multiplen Persönlichkeitsstörung. Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung kennen keine Ich-Grenzen, und ihre extremen Stimmungsschwankungen führen häufig dazu, sich selbst zu schädigen und sich Schmerzen zu bereiten, um die Grenzen zwischen dem Ich und der Welt zu definieren und körperlich spürbar zu machen.

Wer sich selbst verletzt oder schädigt, tut dies nicht generell offenkundig: Manche injizieren heimlich Urin oder trinken Desinfektionsmittel, andere neigen auffallend zu »Unfällen«. Wenn Mädchen oder Frauen anfangen, an sich herumzuschneiden, sich mit Glasscherben die Haut aufzuritzen, sich zu verbrühen, sich mit Feuerzeugen und Zigaretten zu verbrennen, sich die Haare auszureißen oder die Knochen zu brechen, dann ist das Anzeichen einer heftigen inneren Qual und eine drastische Botschaft an die Außenwelt. Narben sind unübersehbare Hilferufe.

Vieles, das als frühe Ursache von Essstörungen gesehen wird, führt auch zum Zwang, sich selbst zu verletzen: gestörte Mutter-Kind-Beziehungen, Grenzüberschreitungen, sexuelle und seelische Gewalt, emotionale Vernachlässigung, Missbrauch. Nach einer amerikanischen Studie sind 62 Prozent der Betroffenen in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden. Opfer sind in allen Gesellschaftsschichten zu finden. Die prominenteste Selbstverletzerin dürfte Lady Di gewesen sein. 1996 gestand sie in einem Fernsehinterview, dass sie sich absichtlich schnitt und aufritzte, mit Rasierklingen, Glasscherben oder einem Zitronenhobel. Auch über Schauspielerinnen wie Romy Schneider und Angelina Jolie ist ähnliches bekannt geworden.

Selbstverletzendes Verhalten ist eine sozusagen pervertierte Art, sich um sich selbst zu kümmern und für das eigene »Wohlbefinden« zu sorgen. Denn viele Frauen, die sich selbst verletzen, haben nie ge- oder irgendwann verlernt, die Signale ihres Körpers zu verstehen. Sie sind nicht nur unfähig (geworden), Schmerz und Verzweiflung zu spüren, sondern nehmen auch Hunger und Durst, Kälte und Müdigkeit nicht mehr wahr. Sie stehen gewissermaßen neben sich, haben kein Zuhause im eigenen Körper, sind sich und ihrem Körper entfremdet, kennen kein ganzheitliches Ich-Gefühl.

Die große Gemeinsamkeit bei Essstörungen und selbstverletzendem Verhalten ist die Manipulation am eigenen Körper: Seelische Qualen drücken sie nicht in Worten aus, sondern durch Aktionen gegen ihren Körper: Das Austragen des Konflikts mit der Um- und Außenwelt wird auf das Schlachtfeld Körper verlagert. Eine Selbstverletzung erfüllt so mindestens zwei Funktionen: sich wieder in Kontakt mit der eigenen Person und mit dem eigenen Körper zu bringen, und sich emotionale Bedürfnisse zu erfüllen, ohne mit offen ausgesprochenen Wünschen und Forderungen an Mitmenschen heranzutreten.

Gerade Essgestörte haben ja nicht nur Probleme, ihre Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen, sondern auch Schwierigkeiten, sie zu formulieren und nach außen zu vertreten. Mit einer Wunde erregen sie mindestens Besorgnis, Aufmerksamkeit und Mitleid, erhalten wahrscheinlich Zuwendung und Nähe. Nach dem Akt der Selbstverletzung stellen sich nicht nur Gefühle der Entlastung und Erleichterung, des Stolzes und gar Glücksgefühle ein, wie es Jogger, oder Bungee-Springer durch die Ausschüttung von körpereigenen Opiaten kennen, sondern oft auch bohrende Schuldgefühle.

Viele Betroffene behindern dann aktiv den Heilungsprozess der Wunden, die sie sich selbst beigefügt haben. Sie kratzen Schorfe ab, öffnen Wunden, die bereits heilen oder beißen sie wieder auf. Wer sich so verstümmelt, verstößt auch gegen das ungeschriebene Gesetz einer Gesellschaft, die Schönheit und Makellosigkeit idealisiert: die Betreffende brandmarkt sich selbst und erzeugt mit diesem (auto)aggressiven Protest zugleich Aufmerksamkeit und Mitleid, distanziert sich aber auch von der Norm.

Die offenen und verborgenen Botschaften und Signale, die einerseits Essgestörte aussenden, andererseits Menschen, die sich selbst verletzen, sind nahezu identisch. Beide zeigen durch ihr Verhalten, wie stark sie (seelisch) Schaden genommen haben. Ein ausgemergelter Körper kann wie eine tiefe Schnittwunde oder eine eiternde Brandblase nach außen dokumentieren, wie schlecht es der Betreffenden geht. Implizit ist darin auch die Aussage verpackt: Ich behandle meinen Körper so schlecht wie ihr meine Seele!

Helfen können bei SVV nach Erfahrungen des Göttinger Psychoanalytikers Professor Ulrich Sachsse und der Bielefelder Psychotherapeutin Luise Reddemann Psychotherapien mit Elementen aus verschiedenen Richtungen wie Verhaltens-, Körper- und Hypnosetherapie. Ziel einer oft mehrmonatigen Therapie ist es, der Patientin zur Fähigkeit zu verhelfen, sich erinnern zu können, »ohne daran zu leiden«.


Literatur zum Thema:

Ulrich Sachsse: »Selbstverletzendes Verhalten«, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1997, 35 Euro;
G. Smith, D. Cox, J. Sardijin: »Selbstverletzung. Damit ich den inneren Schmerz nicht spüre«, Kreuz Verlag, Stuttgart 2000 (antiquarisch!)
Gunther Klosinski: »Wenn Kinder Hand an sich legen. Selbstzerstörerisches Verhalten bei Kindern und Jugendlichen«, Verlag C.H. Beck, München 1999 (antiquarisch!)

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