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Lisa Warnecke: Das Geheimnis der Winterschläfer Reisen in eine verborgene Welt Ist es draußen garstig und die Tage sind kurz, könnte man schon mal eines jener Lebewesen beneiden, die diese nahrungsarme und unwirtliche Jahreszeit schlafend überbrücken wie unsere Igel. Der Winterschlaf ist ein Phänomen, das so rätselhaft wie faszinierend ist, und er ist eine Überlebensstrategie in extremen Lebensräumen bzw. Lebenssituationen. Wer mehr darüber erfahren möchte, sollte sich in das lesenswerte Buch der Wildtierbiologin Lisa Warnecke vertiefen, sein Titel: »Das Geheimnis der Winterschläfer. Reisen in eine verborgene Welt«. Die Autorin erzählt darin kenntnisreich und fesselnd über vier winterschlafende Tierarten auf vier Kontinenten. Großstadt-Igel in Hamburg, Fledermäuse in der kanadischen Prärie und kleine Beuteltiere in Australien hat sie selbst vor Ort als Feldforscherin beobachtet und gewissermaßen durch den Winterschlaf begleitet; ergänzend dazu berichtet sie über die Lemuren Madagaskars, die eine Kollegin erforscht. Schon im Vorwort räumt Warnecke mit dem Irrglauben auf, dass Winterschlaf dem ähnelt, was wir mit Schlaf assoziieren. Der Begriff sei irreführend, schreibt sie, denn »erstens schlafen die Tiere während dieser Zeit gar nicht und zweitens muss sie nicht zwingend im Winter liegen«. Es geht also in diesem Buch nicht ums Schlafen, sondern um einen sehr speziellen Zustand, der ausschließlich Vögeln und Säugetieren vorbehalten ist und den Biologen »Torpor« nennen – bei dem die Tiere zwar leblos wirken, sich aber in einem, so Warnecke, »hochregulierten Zustand« befinden, den sie aus eigener Kraft jederzeit wieder verlassen können. »Torpor ist eine kontrollierte Absenkung von lebenserhaltenden Funktionen wie Stoffwechsel, Körpertemperatur und Herzschlag« erklärt Warnecke. Was viele erstaunen mag: Das Tier kontrolliert oder »steuert« diesen Zustand selbst. »Ein Igel zum Beispiel tritt aus eigener Kraft in den Torporzustand und verlässt ihn auch wieder aus eigener Kraft, unabhängig von der aktuellen Umgebungstemperatur«. Wer Igel überwintert und sich mit ihrer Lebensweise beschäftigt, der hat gelernt, welche Faktoren den Winterschlaf auslösen: ein knapper werdendes Nahrungsangebot, kürzer und kälter werdende Tage, dazu die richtige hormonelle Lage. Dass es aber immer noch der Igel selbst ist, der entscheidet, ob er jetzt »schlafen« möchte, wird einem erst bei der Lektüre dieses Buches klar, und das erklärt dann möglicherweise auch, warum manche genesene Igelpfleglinge trotz guten Winterschlafgewichts auch bei Temperaturen um den Gefrierpunkt noch aktiv sind, andere aber schon bei 10, 12 Grad ihren Stoffwechsel herunterfahren und sich in die Winterpause begeben. Warnecke beschreibt den Winterschlaf als eine Strategie, also etwas sehr Aktives, nicht ein passives Sich-dem-Schlaf-Anheimgeben. Igelfreunde werden besonders die Kapitel des Buchs verschlingen, die sich mit ihren stacheligen Lieblingen befassen; aber auch Kapitel über die anderen Arten auf anderen Kontinenten sind eine lohnende Lektüre voller überraschender Informationen. Dabei hat die Forscherin und Trägerin des Forschungspreises der Deutschen Wildtier-Stiftung in ihrem Buch eine eigene literarische Form gefunden: Sie hat mit den Ergebnissen ihrer wissenschaftlichen Arbeit kein trockenes Sachbuch verfasst, schon gar keines, das mit einer Laien unverständlichen Fachterminologie imponieren will, transportiert aber eine Vielzahl interessanter und aufschlussreicher Fakten. Diese sind eingebunden in eine sehr sympathische Mischung aus häufig persönlich gefärbtem Forschungsbericht und reisetagebuchähnlichen Schilderungen. Ihre Begeisterung für die Sache ist spürbar, und sie wird allein schon an der empathischen Art zu schreiben deutlich. Dazu kann die Biologin Komplexes hervorragend erklären, und sie nimmt ihre Leserschaft auf ihre Streifzüge mit, lässt sie an ihren kleinen und größeren Abenteuern im Ausland teilhaben und an nicht alltäglichen Katastrophen wie in Hamburg, als sie entdeckt, dass ihre Ausrüstung gestohlen wurde und Antenne wie Autobatterie verschwunden sind, so dass sie keine Daten messen und auswerten kann. Sie hatte nämlich zuvor eigens dafür freilebende Igel in einem innerstädtischen Park mit Peilsendern versehen, um sie im Winterschlaf beobachten zu können, unter natürlichen Bedingungen und ohne sie zu stören. Warnecke, die in Hamburg die Ökophysiologie des Igels im städtischen Lebensraum erforscht hat, geht unter vielem anderen auch spannenden weiterführenden Fragen nach, etwa der, welche Rolle der Torpor in der Evolution und im Zuge des Klimawandels spielt oder warum winterschlafende Tiere eine vergleichsweise höhere Lebenserwartung als andere Tiere ohne diese Fähigkeit haben. Ihre Erkenntnisse sind erhellend und alarmieren, wenn sie offen legen, wie rasant und mit welchen Folgen sich durch menschlichen Einfluss die Lebensräume von Tieren verändern und verschlechtern, die mit ihrer Strategie des Winterschlafes scheinbar das perfekte Überlebenskonzept gefunden hatten. Es ist eine nie langweilige, mit vielen wissenschaftlichen Fakten untermauerte Lektüre über ganz besondere Tierarten, die uns die erstaunliche Fähigkeit voraus haben, ihr Verhalten perfekt und aktiv so an die Gegebenheiten anzupassen, dass sie sogar unter extremsten Bedingungen überleben können. Als Igel-Liebhaber muss, als wissbegieriger Tier- und Naturfreund sollte man dieses lehrreiche Buch gelesen haben, denn es vermittelt eine Menge Hintergrundwissen und erweitert den eigenen Horizont nachhaltig – und das auf ausgesprochen angenehme Art. Denn mit ihrer uneitlen, mitfühlenden Herangehensweise an ihr Forschungsgebiet gibt Lisa Warnecke ihren Lesern das Gefühl, tatsächlich auf diese Reise in uns normalerweise verborgene Welten mitgenommen zu werden. C.H. Beck, München 2017, 208 Seiten, ISBN 978 3 406 71328 6 |