...statt einer Liebeserklärung ans Mineralbad Leuze in Stuttgart-Bad Cannstatt...
Vom Bett ins Bad
Eine besondere Spezies: Die Sechs-Uhr-Bader im Leuze
von Maja Langsdorff
Montag, Mittwoch und Freitag sind meine Tage. Seit einer Ewigkeit, mehr als ein Dutzend Jahre. Doch was
sind schon zwölf, fünfzehn Jahre für den, der in Leuze-Epochen denkt und lebt. Leere Zahlen. Die
Altgedienten machen die Jahre an den Als-Ereignissen fest; das Leuze strukturiert die Zeit: »als
die Badehalle dazu kam« (1961), »als das neue Leuze fertig war« (1983), »als
ewig zu war wegen der neuen Sauna« (1997).
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»Das Leuze«, (Mineral)Bad mit wechselvoller Geschichte und treuen Anhängern. Mitte des
19. Jahrhunderts als Badeanstalt eröffnet und ab 1886 unter dem Enkel des ersten Leuze mit Quellwasser-
Schwimmhalle ausgestattet, war es ursprünglich nur Männern geöffnet. Auch im legendären
»Leuze-Club« – heut zählt er gut zwei Dutzend Mitglieder, Durchschnittsalter etliches über
der Rente – hat sich das Patriarchat lang gehalten.
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Als ich in den späteren Achtzigern zu den Sechs-Uhr-Badern stieß, war der Club eine fast reine Männerriege,
angeführt von niemand Geringerem als einem Präsidenten im neunten Lebensjahrzehnt. Aufnahmekriterien waren
offenkundig männliches Geschlecht und jahrzehntelanges Sechsuhrbaden. Die alte Clubtradition, alle
Geburtstage ab kurz vor 7 Uhr in der Badehose zu feiern (und wenn es mal keine Geburtstage zu feiern
gibt, auch das), mobilisiert die Massen. Hockte man dazu früher nahezu frauenfrei in der Kaltbadehalle,
sitzen heut einträchtig Männlein und etliche Weiblein bei Sekt und frischen Brezeln auf der Galerie und
intonieren quetschkommodengestützt Volkslieder von »Muss i denn« bis »Die Gedanken sind
frei«.
Wenn dann um 7 Uhr die erste Wassergymnastik startete, leitete ehedem der »kleine Italiener«,
ein extrem freundlicher, sichtlich durchtrainierter und sich wunderbar bewegender junger Bademeister, die
Badenden zu Bewegungen im Takt der Musik an: Wasserballett. Manche/r weint ihm, der nun an anderer Stelle
wirkt, eine stille Träne nach, schon allein, weil es so schön war, am Weihnachtsmorgen bis zum Hals im
Wasser stehend die Stimmbänder mit einem energischen »Oh Tannenbaum!« zu trainieren.
Wer einmal angefangen hat, konsequent um sechs Uhr morgens zum Schwimmen anzutreten, läuft Gefahr, es
nicht mehr lassen zu können. Auch wenn zu unserem Leidwesen der Badekappenzwang abgeschafft wurde und
man im Wasser schon mal Haare angelt, auch wenn man im Laufe der Jahre schon tote Asseln und gebrauchte
Tampons im Becken sichtete, und auch wenn es kaum etwas Unerotischeres gibt, als einen zweigeteilten, gut
abgehangenen Männerpo in chlorgebleichter Badehose auf Halbmast an der Massagedüse, gestehe ich: Das Leuze
macht süchtig!
Viele kommen täglich. Wir begrüßen uns mit Handschlag und Namen. Kann einer mal nicht, meldet er sich ab,
sonst droht ein Kontrollanruf. Das Zugehörigkeitsgefühl ist ausgeprägt. Ab Viertel vor Sechs wartet man
vereint im Eingangsbereich, so früh, als könnte einem später das Bad davon laufen. In drei Reihen wird
Neuigkeiten austauschend vor den Drehkreuzen angestanden. Die gewähren erst 5:55 Uhr Einlass, wenn nicht,
dann werden Unmutsäußerungen laut. Die Zeiten, in denen die Kassenfrauen eher mal ein Auge zudrückten und
früher öffneten, sind vorbei.
In meiner Anfangszeit harrten wir noch bei jedem Wetter draußen aus. Ich gehöre zu den wenigen Exoten,
die auch bei Regen, Schnee und Eiseskälte mit dem Rad anrücken – einer von uns, ein alter Herr, ist
letztes Jahr morgens kurz vor Sechs auf dem Weg zum Leuze überfahren worden. Der Stammplatz für sein Rad
war die Laterne in den Rabatten vorm Haupteingang mit dem Aufkleber Radparken verboten. Eines Tages prangte
ein zweiter Zettel an der Stange: »Das gilt auch für Otto!« Inzwischen hat sich das Problem
auf tragische Weise gelöst. In all den Jahren haben sich einige treue Seelen verabschieden müssen. Auf
einmal blieben dann eine Dusche leer und ein Platz im Becken, aber fast alle waren bis zum letzten Tag
im Leuze. Genau wie die werdenden Muttis – die kamen auch bis zum letzten Tag; wundersam, dass keine
Wassergeburt überliefert ist.
Endlich im Warmen warten zu dürfen, ist ein Privileg. Den ersten Schritt dazu machte wohl Jelka, unsere
Kassenqueen, als sie uns in den geheizten Vorraum hineinließ. Dort warteten wir brav in drangvoller Enge
vor verschlossener Eingangstür, jeder auf seinem Stammplatz, nix für Morgenmuffel. Leuzeaner sind morgens
auch vor der kalten Dusche schon unverschämt wach und wortgewaltig, etwa wenn sommers der Herr Pfarrer
geradezu unchristlich kurzbehost erscheint und einen Disput über korrektes Auftreten auslöst.
Sechs-Uhr-Bader sind querköpfig und nicht zu vergleichen mit denen vom Berg, die diszipliniert auch
vor offenen Türen anstehen – undenkbar im Leuze. Werden die Drehkreuze versehentlich zu früh freigegeben,
tauscht man heimlich Blicke aus, und verschwörerisch fallen an drei Kreuzen gleichzeitig die Bader ein.
Da hat die Kassenfrau keine Chance.
Leuzeaners Albtraum sind Streikposten vorm Bad zuzeiten von Tarifverhandlungen. Dann teilt sich die
Anhängerschaft in zwei Lager: Die einen streiken mit. Die anderen wandern die paarhundert Meter zum Neuner
(ein zweites, sehr spartanisches Mineralbad einen Steinwurf entfernt, in privater Hand), um fremdzuschwimmen.
Und bringen dann reichlich Horrormeldungen mit: Haarewaschen unter der Dusche sei tabu, fürs Föhnen müsse
man einen Obolus entrichten…
Stammbader lieben ihr Leuze, kennen keine Verbote, umkurven draußen im Winter elegant die
Glatteis-Warnschilder, wenn sie vom kalten ins warme Außenbecken wechseln wollen. Da hat manch ein
durchgefrorener Bademeister entnervt resigniert. Man arrangiert sich halt. Sechs-Uhr-Bader sind dafür
besonders leidensfähig. Sie wissen: Irgendwas läuft verdammt schief, wenn im Leuze mal alles funktioniert.
So hat man im Laufe der Jahre hin und wieder morgens unfreiwillig kalt geduscht, gesperrte Duschräume
überlebt, fehlenden Strom nicht angemahnt, jede Preiserhöhung geschluckt, akzeptiert, mit der
2-Stunden-Karte die Sauna mitzulöhnen, die um Sechs gar nicht zur Verfügung steht. Auch als die
Garderobenschränke auf die Hälfte verkleinert wurden, muckte niemand auf. Nun existieren kaum noch
Schränke, die viel mehr als eine Unterhose und ein paar Schuhe aufnehmen können. Geschimpft haben
sie wie die Rohrspatzen, als vor wenigen Wochen die »Keuns« eingeführt wurden, Chips mit den Daten
zur Badezeit, die in einem sperrigen, lästigen Armband mitgeführt werden müssen. Aber was machten
die Leuzeaner? Sie diskutierten ihren Zorn unter den Duschen und behelligten niemand Verantwortlichen.
So sind die Sechs-Uhr-Bader: Bruddeln, aber ned toba. Und wen das alles interessiert? Na, die
Sechs-Uhr-Bader. Wenn ich morgen ins Leuze komme, hat dieser Artikel längst die Runde gemacht.
Und dann wird geschwommen. Das kann man im Leuze übrigens auch.
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