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Artikelarchiv von Maja Langsdorff
Die ersten beiden der folgenden drei Artikel wurden am 8. Januar 2002 in der »Stuttgarter Zeitung« veröffentlicht

Hauptartikel zum Thema:

»Loslassen - damit es allen besser geht«

Hintergrund:

»Auch Eltern brauchen Hilfe«
»Aufarbeiten in Phasen«

Loslassen - damit es allen besser geht

Wenn Essstörungen Familien zerstören / In Bremen helfen sich Eltern seit zehn Jahren gegenseitig

Essstörungen haben häufig nicht nur ihre Wurzeln in der Familie, sie wirken oft auch in die Familie zurück. Ohne es zu wollen, reagieren Angehörige falsch, werden co-abhängig und tragen so zur Aufrechterhaltung der Essstörung bei. In einem Elternkreis in Bremen finden Angehörige schon lange Rat und Hilfe.

von Maja Langsdorff

Heidemarie Gniesmer erlebte vor zehn Jahren einen heilsamen Schock: Sie, die im Frühjahr 1991 damit konfrontiert worden war, eine magersüchtige Tochter zu haben, begegnete einer Familie, deren 26jährige Tochter seit sieben Jahren an Magersucht litt und damit die ganze Familie unter Druck setzte. Die junge Frau aß nur nachts und allein; tagsüber mussten die Eltern sich ruhig verhalten, um nicht den Zorn der Tochter zu erregen. Sie durften keinerlei Besuch einladen und lebten isoliert mit einer eigentlich erwachsenen Frau zusammen, die sie sich aber nicht für zwei Stunden ohne Aufsicht zu lassen trauten. Einzige Abwechslung waren unzählige Termine bei Ärzten und Spezialisten.

Für Heidemarie Gniesmer und ihren Mann stand damals fest: »So wollen wir mit unserer essgestörten Tochter nicht zusammenleben.« Die frühere Bremer Lehrerin ist keine Duldernatur, die klaglos wartet, bis etwas geschieht. Aus Ratlosigkeit, Verzweiflung und dem Wunsch heraus, sich mit anderen Eltern in ähnlicher Situation auszutauschen, rief sie vor zehn Jahren mit Hilfe des Bremer Gesundheitsladens den »Elternkreis essgestörter Töchter und Söhne« ins Leben - eine Idee, die einschlug wie eine Bombe.

Eine Ankündigung im Weser-Kurier mit der Überschrift »Damit nicht alles an den Müttern hängen bleibt – Eltern magersüchtiger Kinder gründen Selbsthilfegruppe« lockte am 5. Januar 1992 nicht weniger als 30 Personen an. Den Elternkreis gibt es nach wie vor, und wenn er in diesen Tagen sein Jubiläum feiert, können Heidemarie Gniesmer und die zweite Frau der ersten Stunde, Liesel Busch, auf eine außerordentlich erfolgreiche Arbeit zurückblicken. Die beiden und viele andere engagierte Bremer Eltern haben nicht nur sich selbst geholfen. Sie haben beispielsweise ein Sorgentelefon und eine Fachbücherbibliothek eingerichtet und regelmäßig zu Elternseminaren, Projekttagen und Vorträgen eingeladen. Auf vielen Ebenen hat der Elternkreis Pionier- und Aufklärungsarbeit geleistet. Auch der Stuttgarter Arbeitskreis Essstörungen ließ sich 1998 durch Materialien des Bremer Elternkreises zu einem Aufklärungsfaltblatt inspirieren (»Zu dick, zu dünn oder total normal«, zu beziehen über den Suchthilfekoordinator, Bismarckstraße 3, 70176 Stuttgart, Tel. 216-7765). Eine nur annähernd vergleichbare Selbsthilfegruppe gibt es in Stuttgart bis heute nicht.

Der Bremer Elterkreis ist eine der ersten Institutionen dieser Art in Deutschland, wenn nicht die älteste überhaupt. Er versteht sich in erster Linie als eine Adresse für Angehörige. In der Runde mit Leidensgefährten sind sie nicht allein, erleben sich als Teil einer (Schicksals)Gemeinschaft, finden Verständnis und Trost. An die 200 mal haben sich die Eltern in zehn Jahren getroffen. Der Anteil von Eltern magersüchtiger Kinder ist groß, weil Magersucht früher beginnt als Ess-Brechsucht und Magersüchtige in der Regel noch bei ihren Eltern wohnen.

Der Zustrom von »Neuen« lässt nicht nach, und stets kommen diese mit dem Gefühl, als Eltern versagt zu haben. »Mir ist es wichtig, mit Gleichbetroffenen zu reden, was so die Seele bedrückt«, sagt eine Mutter. Sie möchte über Gespräche herausfinden, »wie ich mich konsequenter verhalten kann, nicht immer wieder zu schnell nachgebe, und vor allen Dingen lerne, die Ängste um einen Selbstmord meiner Tochter Schritt für Schritt abzubauen.« In der Gruppe erfahren Angehörige Solidarität. Sie erkennen in den Schilderungen anderer nicht nur die eigene Geschichte und Problematik wieder, sondern können auch aus deren Erfahrungen lernen und Mut schöpfen.

Essstörungen wie Magersucht oder Ess-Brechsucht dauern oft viele Jahre an, und im Bemühen, der kranken Tochter zu helfen, zentriert sich das ganze Leben um diese. Die eigene Lebensgestaltung bleibt auf der Strecke, während die Betroffene unbeirrbar in der Krankheit verharrt. Eltern oder Partner sind in einer schwierigen Position, fühlen sich hilflos und allein gelassen. Nicht selten plagen sie massive Schuld- und Versagensgefühle. Selbst wenn sie begreifen, machtlos gegenüber der Sucht der Tochter oder Partnerin zu sein, schaffen sie es nicht loszulassen, weil sie sich verantwortlich und zuständig wähnen.

Da erzählt etwa der Partner einer langjährig Magersüchtigen: »Ich war bemüht, ihr zu helfen und für ihre Erkrankung Verständnis aufzubringen. Ohne dies zu wissen, nahm ich dabei die Rolle eines Co-Abhängigen ein. Das beanspruchte mich zeitweise bis an die Grenzen meiner körperlichen und psychischen Belastbarkeit. Zudem isolierten wir uns immer stärker von der Außenwelt, und alles kreiste nur noch um ihre Krankheit. Irgendwie drängte sich mir das Gefühl auf, sie richtete sich ihr Leben nur noch nach ihrer Sucht ein.« Er trennte sich erst nach 15 Jahren von seiner Frau und benötigte dann selbst therapeutische Hilfe.

Oft schadet das, was gut gemeint ist - Opferbereitschaft, Zugeständnisse, Mit-Leiden – den Angehörigen und zieht ihre Energien ab, ohne den Kranken zu helfen. Im Gegenteil: »Es ist schwer zu vermitteln, dass übergroße Liebe und Fürsorge die Heilungschancen verschlechtert«, erklärt ein Vater, »Kummer und Mitgefühl nutzen gar nichts.« Menschen mit Essstörungen haben normalerweise nie gelernt, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, Konflikte auszuhalten und Kritik zu ertragen. »Gerade die Übertragung der Verantwortung zurück an die Erkrankten wirkt aller Erfahrung nach Wunder«, schreibt der Elternkreis in einer Kurzinfo. »Die damit verbundene Verbesserung der Lebensqualität der Eltern wirkt auch positiv für die betroffenen Kinder und hilft, die 'Gummibänder' und 'Verstrickungen' zu lösen.« Denn geht es der Betroffenen schlecht, leiden auch die Mitbetroffenen. Und für deren Leid wiederum fühlen sich häufig die Betroffenen verantwortlich, was ihre Probleme verstärkt - ein Teufelskreis.

Mit dem gestörten Essverhalten verschaffen sich Essgestörte Aufmerksamkeit und Zuwendung. Bewusst oder unbewusst können sie so nahestehende Menschen manipulieren und erpressen, ihre Interessen durchsetzen, aber sich auch vor belastenden Situationen und Aufgaben drücken, und sie machen bei Eltern, die »mitspielen«, die Erfahrung, dass diese Strategie funktioniert. Verantwortung in eigener Sache zu übernehmen, wäre aber ein erster Schritt heraus aus der Essstörung.

»Wer sein Kind liebt, muss lernen, es loszulassen und für seine eigene Lebensfreude zu sorgen«, meinen die Bremer Eltern. Dass dies leichter gesagt als getan ist, wissen sie. Eltern müssen akzeptieren, dass sie in anderen Wert- und Erfahrungswelten als ihre Kinder leben. Ratschläge, die sie gut meinen, erreichen diese nicht. Betroffene brauchen fast immer fachliche Hilfe, unter Umständen müssen sie zwangseingewiesen werden, um ihr Leben zu retten. Aber sie müssen sich letztlich selbst dafür entscheiden, leben zu wollen. Motivation lässt sich nicht erzwingen - dies ist für Angehörige eine schmerzliche Erkenntnis.

Heidemarie Gniesmer bringt formelhaft auf den Punkt, wie Angehörigen sich und den Betroffenen helfen können: »Loslassen, Grenzen setzen, sich selber finden«. Loszulassen bedeute nicht Verlassen; Grenzen zu setzen bedeute nicht Liebesentzug; sich selbst zu finden, bedeute nicht, sich vom anderen abzuwenden. Frau Gniesmer und Frau Busch lassen in diesen Tagen los: Sie treten nach zehn Jahren von ihren Ämtern zurück und übergeben den Elternkreis an ein verjüngtes Team. Gniesmer verabschiedet sich mit den Hesse-Worten: »Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ... Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde.«

Auch Eltern brauchen Hilfe

Ein bis zwei Prozent aller Mädchen und jungen Frauen sind magersüchtig, zwei bis fünf Prozent aller Frauen leiden unter Essbrechsucht. Der Anteil von männlichen Betroffenen unter Essgestörten liegt unter zehn Prozent. Während Essbrechsüchtige am häufigsten in der Altergruppe zwischen 15 und 25 Jahren anzutreffen sind, sind Magersüchtige im Schnitt deutlich jünger: zwischen 12 und 20 Jahren. Sie wohnen also oft noch bei den Eltern.

Für Eltern ist dies eine extreme Belastung, und viele suchen lange Zeit nach Hilfe – für ihre Tochter, nicht für sich selbst. Doch auch sie würden Hilfe benötigen, um die Zusammenhänge besser zu erfassen, nicht unbewusst die Essstörung mitzutragen und an dieser zu zerbrechen. Weiterhelfen kann zum Beispiel der Besuch einer Selbsthilfegruppe für Eltern.

Essstörungen wie Magersucht sind aber Krankheiten, die in einem engen Zusammenhang stehen mit gestörten Beziehungen und Strukturen in der Familie. Experten deuten beispielsweise Magersucht und Essbrechsucht als Ausbruchsversuch: die Essstörungen wird u.a. ausgelöst, weil die Familie keinen Raum für Autonomie und Individualität lässt und die persönliche Entwicklung massiv behindert. Da die Problematik also zum Teil in der Familie wurzelt, kann eine Familientherapie ratsam sein, wenn die Erkrankte noch zuhause lebt.


Aufarbeiten in Phasen

Die Bremer Elternkreisgründerin Heidemarie Gniesmer spricht von »Trauerarbeit«, wenn es um das Loslassen der Eltern essgestörter Kinder geht. In Anlehnung an das Trauerphasenmodell der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross nennt sie fünf Entwicklungsstufen, die Angehörige durchlaufen.

Zunächst sind sie schockiert. Sie wollen nicht wahr haben, dass ihre Tochter süchtig ist und fürchten sich vor Verlust und Veränderung. Die Situation macht ihnen Angst. Allmählich begreifen sie und stellen sich Fragen wie: »Warum gerade wir?« und »Was haben wir nur falsch gemacht?«. Sie sind wütend auf sich selbst und insgeheim auch auf die Betroffene. In dieser Phase ist es wichtig, solche Gefühle wahrzunehmen, zu akzeptieren und bewusst(er) mit ihnen umzugehen. Es geht darum, nun allmählich loslassen zu lernen und der Kranken die Verantwortung zurückzugeben.

Die nächsten beiden Phasen sind von Aktionismus und Resignation geprägt. Es beginnt eine verzweifelte Suche nach jemanden, der die Schwierigkeiten aus dem Weg räumt - Arzt, Therapeut, Klinik. Wenn sich kein Erfolg abzeichnet, folgen Depression und Verdrängungsversuche. Erst wenn sich die Angehörigen ihre Ohnmacht eingestanden haben, können sie Abstand zu gewinnen und beginnen ihr Leben und ihre Einstellung zu ändern, um zu mehr Gelassenheit zu finden.

Viel gewonnen ist, wenn das Befinden der Angehörigen nicht mehr unmittelbar gekoppelt ist an das Befinden der Kranken: die fünfte Phase. Gniesmer weiß, dass der Prozess der Veränderung nicht immer, aber unter Umständen auch auf eine räumliche Trennung hinauslaufen kann.

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