Hinter selbstschädigendem Verhalten verbergen sich zugleich Hilferuf und Vorwurf an die Umwelt. Wer
beispielsweise als Kind vernachlässigt, missbraucht oder verletzt wurde und keine Hilfe gefunden hat, neigt
später eher dazu, sich selbst zu schädigen und zu bestrafen. Ohnmächtig und hilflos übernehmen diese
Menschen die Anschuldigung des Täters und richten ihre Wut ersatzweise gegen sich selbst, da sie sie
nicht gegen den richtigen Adressaten richten und ausleben können.
Nicht selten gehen Selbstverletzungen mit abhängigem Verhalten einher. Jede dritte Frau, die sich selbst
verletzt, leidet auch unter Ess-Brech-Sucht, und auch unter magersüchtigen Mädchen zwischen 13 bis 17 Jahren
sind Selbstverletzungen relativ häufig. Essstörungen fungieren als Ventil, sich Erleichterung von einem
unerträglichen inneren Druck zu verschaffen, und sie sind im Grunde auch eine Form der Selbstschädigung.
Wenn irgendwann die negative Gefühle - Ängste, Zweifel, Depressionen, Wut - übermächtig werden und der
innere Druck nicht mehr durch Essen und Erbrechen abgebaut werden kann, dann brauchen manche Betroffenen
drastischere Mittel. Nicht bewältigte Schmerzen aus der Vergangenheit versuchen sie praktisch durch
aktuelle Schmerzen aufzuarbeiten und abzubauen. Und erst wenn Blut fließt, haben sie die Empfindung,
sich selbst wieder zu spüren. Dieses Spüren stellt sich oft mit Verzögerung ein; erst Minuten oder
Stunden später schmerzt die Wunde.
Selbstverletzungen werden oft wie eine Zeremonie inszeniert und zelebriert: Messer und Rasierklingen werden
akkurat auf einem Samttuch an einem bewusst ausgewählten Ort ausgebreitet, Störquellen werden ausgeschaltet,
Musik läuft im Hintergrund. Selbstverletzerinnen schaukeln nicht selten in einen tranceähnlichen,
ekstatischen, der sie zunächst keine Schmerzen spüren lässt, ihnen aber zu dem ersehnten Kick verhilft.
Selbstverletzendes Verhalten (SVV) ist keine eigenständige seelische Erkrankung, sondern Symptom und
Ausdruck einer schweren psychischen Krankheit an der Grenze zur Psychose, etwa einer Borderline- oder
Multiplen Persönlichkeitsstörung. Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung kennen keine
Ich-Grenzen, und ihre extremen Stimmungsschwankungen führen häufig dazu, sich selbst zu schädigen und
sich Schmerzen zu bereiten, um die Grenzen zwischen dem Ich und der Welt zu definieren und körperlich
spürbar zu machen.
Wer sich selbst verletzt oder schädigt, tut dies nicht generell offenkundig: Manche injizieren heimlich
Urin oder trinken Desinfektionsmittel, andere neigen auffallend zu »Unfällen«. Wenn Mädchen oder Frauen
anfangen, an sich herumzuschneiden, sich mit Glasscherben die Haut aufzuritzen, sich zu verbrühen,
sich mit Feuerzeugen und Zigaretten zu verbrennen, sich die Haare auszureißen oder die Knochen zu
brechen, dann ist das Anzeichen einer heftigen inneren Qual und eine drastische Botschaft an die
Außenwelt. Narben sind unübersehbare Hilferufe.
Vieles, das als frühe Ursache von Essstörungen gesehen wird, führt auch zum Zwang, sich selbst zu
verletzen: gestörte Mutter-Kind-Beziehungen, Grenzüberschreitungen, sexuelle und seelische Gewalt,
emotionale Vernachlässigung, Missbrauch. Nach einer amerikanischen Studie sind 62 Prozent der
Betroffenen in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden. Opfer sind in allen
Gesellschaftsschichten zu finden. Die prominenteste Selbstverletzerin dürfte Lady Di gewesen
sein. 1996 gestand sie in einem Fernsehinterview, dass sie sich absichtlich schnitt und
aufritzte, mit Rasierklingen, Glasscherben oder einem Zitronenhobel. Auch über Schauspielerinnen
wie Romy Schneider und Angelina Jolie ist ähnliches bekannt geworden.
Selbstverletzendes Verhalten ist eine sozusagen pervertierte Art, sich um sich selbst zu kümmern
und für das eigene »Wohlbefinden« zu sorgen. Denn viele Frauen, die sich selbst
verletzen, haben nie ge- oder irgendwann verlernt, die Signale ihres Körpers zu verstehen. Sie
sind nicht nur unfähig (geworden), Schmerz und Verzweiflung zu spüren, sondern nehmen auch
Hunger und Durst, Kälte und Müdigkeit nicht mehr wahr. Sie stehen gewissermaßen neben sich,
haben kein Zuhause im eigenen Körper, sind sich und ihrem Körper entfremdet, kennen kein
ganzheitliches Ich-Gefühl.
Die große Gemeinsamkeit bei Essstörungen und selbstverletzendem Verhalten ist die Manipulation am
eigenen Körper: Seelische Qualen drücken sie nicht in Worten aus, sondern durch Aktionen gegen
ihren Körper: Das Austragen des Konflikts mit der Um- und Außenwelt wird auf das Schlachtfeld
Körper verlagert. Eine Selbstverletzung erfüllt so mindestens zwei Funktionen: sich wieder in
Kontakt mit der eigenen Person und mit dem eigenen Körper zu bringen, und sich emotionale
Bedürfnisse zu erfüllen, ohne mit offen ausgesprochenen Wünschen und Forderungen an Mitmenschen
heranzutreten.
Gerade Essgestörte haben ja nicht nur Probleme, ihre Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen, sondern
auch Schwierigkeiten, sie zu formulieren und nach außen zu vertreten. Mit einer Wunde erregen
sie mindestens Besorgnis, Aufmerksamkeit und Mitleid, erhalten wahrscheinlich Zuwendung und Nähe.
Nach dem Akt der Selbstverletzung stellen sich nicht nur Gefühle der Entlastung und Erleichterung,
des Stolzes und gar Glücksgefühle ein, wie es Jogger, oder Bungee-Springer durch die Ausschüttung
von körpereigenen Opiaten kennen, sondern oft auch bohrende Schuldgefühle.
Viele Betroffene behindern dann aktiv den Heilungsprozess der Wunden, die sie sich selbst beigefügt
haben. Sie kratzen Schorfe ab, öffnen Wunden, die bereits heilen oder beißen sie wieder auf. Wer
sich so verstümmelt, verstößt auch gegen das ungeschriebene Gesetz einer Gesellschaft, die Schönheit
und Makellosigkeit idealisiert: die Betreffende brandmarkt sich selbst und erzeugt mit diesem
(auto)aggressiven Protest zugleich Aufmerksamkeit und Mitleid, distanziert sich aber auch von der Norm.
Die offenen und verborgenen Botschaften und Signale, die einerseits Essgestörte aussenden, andererseits
Menschen, die sich selbst verletzen, sind nahezu identisch. Beide zeigen durch ihr Verhalten, wie
stark sie (seelisch) Schaden genommen haben. Ein ausgemergelter Körper kann wie eine tiefe Schnittwunde
oder eine eiternde Brandblase nach außen dokumentieren, wie schlecht es der Betreffenden geht.
Implizit ist darin auch die Aussage verpackt: Ich behandle meinen Körper so schlecht wie ihr meine Seele!
Helfen können bei SVV nach Erfahrungen des Göttinger Psychoanalytikers Professor Ulrich Sachsse
und der Bielefelder Psychotherapeutin Luise Reddemann Psychotherapien mit Elementen aus verschiedenen
Richtungen wie Verhaltens-, Körper- und Hypnosetherapie. Ziel einer oft mehrmonatigen Therapie ist
es, der Patientin zur Fähigkeit zu verhelfen, sich erinnern zu können, »ohne daran zu leiden«.
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