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Igelpflege Rotenburg/Wümme e.V.:

Valone. Mein Tagebuch

Wenn hilfsbedürftige Igel in Pflegestationen aufgenommen werden, brauchen sie bei der meist hohen Zahl der stacheligen Patienten eine Art Identifikationshilfe für ihre Krankenakte. Dazu werden sie beispielsweise gekennzeichnet mit einem Tupfer Farbe und erhalten einen Namen. Oft werden sie nach dem Finder, dessen Wohnort benannt oder bekommen schlicht eine Nummer verpasst, auch wenn sie von hingebungsvollen Tierschützern keineswegs wie eine Nummer behandelt werden. Mancher Igel verdankt seinen Namen der Kreativität seiner Pflegerin. Und im Falle von »Valone« hat diese, nämlich Merwel Otto-Link, ihres Zeichens Vorsitzende der Igelpflege Rotenburg/Wümme e.V., einen Namen erfunden, den es bereits gab: Valone ist hierzulande ein sehr seltener Name, und es ist ein Mädchenname. Nur eins von 100.000 Mädchen trägt diesen Namen, liest man der Website Vornamen.blog, und weiter: »Dementsprechend ist Valone in der Rangfolge der häufigsten Mädchennamen weit unten auf Platz 28.242 zu finden. Ein Mädchen mit dem Namen Valone ist also etwas ganz Besonderes!«

Der wirklich ganz besondere Held des gleichnamigen Buchs »Valone. Mein Tagebuch« allerdings würde sich dagegen wohl verwahren, einen Weibernamen zu tragen, könnte er sich in die Diskussion einschalten. Er hat sich nämlich über die Monate zu einem stattlichen Igelmann entwickelt, dank professioneller Erster Hilfe und anschließender langwieriger Behandlungen, ohne die er das Säuglingsalter gar nicht erst überlebt hätte. Er wurde eingeliefert bei dem Rotenburger Igelpflegeverein als verschrumpeltes eiskaltes Etwas mit 46 Gramm Lebendgewicht, ausgerechnet zum besonders stressigen Herbstanfang, einer Zeit, in der sich die Neuaufnahmen von kranken und mageren Igeln häufen. Daher litt seine Namensgebung etwas unter dem Zeit- und Arbeitsdruck vor Ort. »Mir fiel nichts Besseres ein, als das Wort ‚alone' zu nehmen und ein ‚V' für Verden davorzuhängen«, erläutert Merwel Otto-Link. Immerhin jedoch hatte sie einen aussagekräftigen Namen kreiert: Er vereint den Aufnahmezustand – einsam, allein – mit dem Fundort des Neulings.

Das querformatige, hochwertig und liebevoll gestaltete, reich bebilderte Buch »Valone« trägt den weiten Untertitel »Die erstaunlichen Erlebnisse eines einzigartigen Igels«. Es ist aber kein authentischer Bericht und erzählt auch nicht in epischer Breite die Leidens- und Entwicklungsgeschichte eines Igelfindlings, der ohne kompetente menschliche Hilfe keine Überlebenschance gehabt hätte. Was Valone in seinen ersten Monaten alles mitgemacht hat, darüber berichtet die Vereinsvorsitzende komprimiert auf den ersten Seiten dieses Bandes, und später noch einmal, als er nach Winterschlaf und erfolgreicher Auswilderung durch aggressives Verhalten auffällt. Was im Mittelpunkt des Buches steht, sind vor allem fiktive Tagebuchtexte des Titelhelden, eher menschliche Gedanken und Geschichten aus der Sicht eines Igels. Als igelaffines Sprachrohr und Ghostwriter hat sie Autor Carsten Dickmann Valone sozusagen »ins Igelmäulchen gelegt«. Es sind kurze Texte in einfacher, flüssiger Sprache, in denen der Igel nicht nur über Igeliges sinniert oder berichtet, wie er die Welt auf kurzen Beinen so erlebt, sondern auch mal über Banales philosophiert. Fragen, die sich dem stachligen Kameraden stellen, Beobachtungen, die er macht und Gedanken, die ihn beschäftigen, geben unter vielem anderem auch Einblicke in die Arbeit und die Abläufe in der Igelstation. Und ganz nebenbei vermitteln sie ohne bewusst erhobenen pädagogischen Zeigefinger Wissens- und Beachtenswertes über Igel, den Umgang mit ihnen und ihre Bedürfnisse.

Illustriert sind die amüsanten Tagebuchhäppchen und Anekdoten mit den brillanten Fotos von Merwel Otto-Link. Wie die Tagebuchtexte frei erfunden und dem Igel »untergeschoben« worden sind, sind gewiss nicht wenige der Bilder inszeniert bzw. absolut gekonnt gestellt. Valone zeigte sich bei den Foto-Sessions offenbar sehr kooperativ und schnupperte (frei)willig an manchem Objekt, das ihm zur Seite gestellt wurde, zum Beispiel an Saurierfiguren oder naturalistischen Kunststoffigeln. So dürften manche Fotos in Verbindung mit dem Begleittext beim geneigten Leser bzw. Betrachter ein breites Grinsen hervorrufen. Etwa, wenn Valone über den Sinn von Schminken und Abschminken reflektiert: Anscheinend fasziniert beäugt er das Konterfei einer stark geschminkten Frau und notiert: »… dann bemerkte ich, dass sie riesige schwarze Stacheln auf den Augen hatte. Auf ihrem Mund klebte eine Spur von glitzerndem Rührei und ihr Gesicht war von einem Hauch Schokoladen überzogen. Wahnsinn!« Hier mag das gelungene Foto die Vermenschlichung des stacheligen Draufgängers rechtfertigen, der sich anderen Bildern zufolge auch liebend gern an den Schuhen seines Personals zu schaffen macht. Die Fotos vermitteln wohl zurecht den Eindruck, dass der neugierige Igel artuntypisch Freude am Kontakt mit dem Menschen und dessen Umgebung hat.

Merwel Otto-Link baut aber möglicher Kritik gleich zu Beginn des Buches vor und stellt klar: »Bei Valone handelt es sich um die Fehlprägung eines Wildtiers.« Er sei durch den frühen Kontakt und seine aufwändige Pflege von Anfang an sehr menschenbezogen und anders als seine Artgenossen gewesen – ein möglicher Grund dafür, warum er schon als Säugling von seiner Mutter aussortiert worden war. Und weil Valone eben ein so besonderes Tier ist, wurde er zum Protagonisten dieses so ungewöhnlichen Igel-Bilder-Buchs. Im Grunde aber war und ist dieses Tier ein Sorgenkind. »Waisensäuglinge, die einzeln zu uns kommen, werden i.d.R. nach kurzer Quarantäne mit Gleichaltrigen sozialisiert.« Bei Valone war dies nicht möglich – er ist nach Worten der Vereinsvorsitzenden »der einzige Fall, der sich so entwickelt hat, und wir hoffen, dass das auch einzigartig bleibt, denn unser Ziel ist es, Igel gesund und wildbahntauglich zu entlassen.«

So niedlich das Buch ist, so traurig ist also trotz relativen Happyends der Hintergrund. Für Valone bleibt zu hoffen, dennoch ein schönes Leben in Freiheit führen zu können, auch wenn sein Start ins Leben alles andere als optimal war und er wohl immer etwas anders als seine Artgenossen sein wird. Und dem Buch wünscht man viele lernbegierige Leser. Für Menschen, die das ihnen noch zu unbekannte Wildtier Igel mögen und auf kurzweilig-unterhaltsame Art mehr über diese urigen Gesellen lernen möchten, ist dies die richtige Lektüre.

Hrsg.: Igelpflege Rotenburg/Wümme, 2021, 168 Seiten, 19,95 Euro. Bezug über Buch & Aktuelles, C.J. Müller's Buchhandlung, beide Rotenburg, oder per E-Mail an Igelpflege Rotenburg/Wümme e.V.

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