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  Die heimliche Sucht

1. Teil:
Versuch einer Annäherung an das Phänomen »Bulimarexie« und an die bulimarektische Persönlichkeit

Einleitung

(Aktuelle Fassung der 18. Auflage, Erscheinungstermin 6/2002)

Sie wissen nicht, was es ist. Sie wissen nicht, woher es kommt. Sie wissen nicht, was dagegen tun: Immer mehr Frauen essen süchtig. Sie unterliegen einem unkontrollierbaren Zwang, der sie dazu treibt, Nahrung in unglaublichen Mengen in sich hineinzuschaufeln und anschließend alles wieder über der Kloschüssel künstlich zu erbrechen. Diese Frauen verzweifeln an sich selbst. Sie leiden an einem unstillbaren Hunger und wollen doch im Grunde genommen gar nicht essen. Für sie ist der Satz aus Goethes Schauspiel »Faust« (1) grausame Realität und Drehpunkt ihres Lebens: »Zwei Seelen wohnen, ach!, in meiner Brust.«

Auf »Brust« reimt sich »Lust« und »Frust«. Die »Lust« der Esssüchtigen ist der ständige und unbeherrschbare Drang, essen zu müssen. Ihr Frust ist die Perversion des eigenen Handelns, die Sinn- und Verantwortungslosigkeit zu essen mit dem Vorhaben, danach zu erbrechen. Diese Frauen kranken an einer Sucht, die lange Jahre einfach als Unbeherrschtheit abgetan wurde. Laien tun sich schwer, hinter dem übersteigerten Essbedürfnis den eigentlichen Hunger wahrzunehmen und das Verhalten als Ausdruck eines seelischen Verhungerns zu verstehen. Fachleute können sich nicht einig werden, was hinter dem unheimlichen Zwang steht: eine narzisstische oder ethische Störung, eine Borderline-Störung, eine Verhaltensstörung, eine tatsächliche, nicht stoffgebundene Sucht, eine erschreckende Modeerscheinung, die zur Nachahmung anregt…

Die Mädchen und Frauen mit den Idealfiguren und dem Hunger im Hirn leiden an der psychischen Erkrankung, der man den Namen »Bulimia nervosa« oder »Bulimarexie« gegeben hat. Für diese Erscheinung hat sich in den vergangenen Jahren der Begriff »Bulimie« eingebürgert, der die Symptomatik aber unkorrekt beschreibt. »Bulimie« bedeutet eigentlich Heißhunger oder Essgier und ist nicht zwingend mit dem Symptom des Erbrechens gekoppelt. Daher wird in diesem Buch der Begriff »Bulimie« kaum und in Anführungszeichen verwendet.

So verständnis- und hilflos selbst die nächsten Angehörigen oft den Ess-Brech-Süchtigen gegenüberstehen, so aufschlussreich ist der Name ihrer Erkrankung, schlüsselt man ihn einmal auf. »Bulimia« leitet sich aus dem Griechischen von »bous« (Ochse) und »limos« (Hunger) ab. Bulimarexie bedeutet also »Stierhunger«, im übertragenen Sinn »verzehrender Hunger«. Es ist bezeichnend, dass schon hier die erste Fehlinformation auftaucht. Denn wenn jemand anfängt »zu fressen wie eine Gehirnamputierte« (Ausspruch einer Mutter), dann hat dies mit Hunger nur noch im weitesten Sinn zu tun. Die Betreffende möchte in Wirklichkeit satt sein. Doch sie hungert nicht unbedingt nach Nahrung, sondern nach Inhalten, Aufgaben und Anerkennung. Sie sucht Liebe, Gefühle und einen tieferen Sinn in ihrem Leben. Es hungert nicht der Körper, sondern die Seele. Und hier greift die Erkrankte zum falschen Mittel: Sie füttert ihren Körper, um satt zu sein. Sie missdeutet die Signale ihrer Psyche und dämpft sie auf physische Weise. Das Essen wird zur Sucht, die Nahrungsaufnahme motorisch. Wenn die Gedanken einer Frau nur noch um das eine Thema »Essen« kreisen, dann darf man nicht mehr von Hunger sprechen.

Wer am »Stierhunger« leidet, erlebt Essen und Erbrechen fast immer als eine Einheit. Das Erbrechen, das mit dem Finger, einem Löffel oder durch einfaches Würgen provoziert wird, ist für die Ess-Brech-Süchtige ein unbedingtes Muss, die Konsequenz ihres Heißhunger-Anfalls. Was einmal am Krankheitsbeginn das einfachste Mittel war, zu essen und trotzdem schlank zu bleiben, wird im Verlauf der Suchterkrankung zum programmierten Symptom. Essen und Erbrechen, diese beiden Symptome, treten bei Bulimarexie vordergründig am deutlichsten in Erscheinung. Da Essen etwas Lebensnotwendiges und völlig normal ist, die Möglichkeit aber, künstlich zu erbrechen, als pervers angesehen wird, verheimlichen die Betroffenen oft lange Zeit ihr Verhalten. Bis zum Beginn einer Therapie verstreichen oft vier bis sieben Jahre, und vier von fünf Betroffenen scheuen davor zurück, sich in Behandlung zu begeben. Die Sucht nach Essen und Erbrechen erzeugt einen enormen Leidensdruck. Welche Gefühle Ess-Brech-Süchtige bewegen, wird deutlich, wenn sie in eigenen Worten beschreiben, wie sie sich und ihre Symptome erleben.

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