Artikelarchiv von Maja Langsdorff
Der folgende Artikel wurde am 4.4.2000 in der »Stuttgarter Zeitung« veröffentlicht
|
Wenn nachts die Zähne knirschen
Stress ist die Hauptursache, wenn Menschen versuchen, ihre Probleme nachts im Schlaf mit den Zähnen
zu zermalmen
Wer tagsüber allzu oft die Zähne zusammenbeißt und den Reflex unterdrückt, mal ordentlich
seine Zähne zu zeigen, erlaubt es sich unter Umständen nachts - und merkt es nicht einmal.
Zähneknirschen ist weit verbreitet und kann schmerzhafte Folgen haben.
von Maja Langsdorff
Vor allem Stresssituationen wie psychische Anspannung, seelische Belastung oder beruflicher Druck
sind daran schuld, wenn Menschen beginnen, nachts mit ihrem Gebiss zu arbeiten. Sie knirschen und
mahlen mit ihren Zähnen, beißen sie heftig aufeinander oder pressen die Zunge gegen Zähne und Gaumen.
Häufig machen sie dies, ohne selbst etwas davon zu bemerken, und wachen morgens wie gerädert auf.
Sie fühlen sich unwohl, ihre Kaumuskeln schmerzen, die Zähne sind druckempfindlich, Nacken und
Schultern sind verspannt, im Extremfall kann der Mund nur noch unter Schmerzen geöffnet werden,
und die Schmerzen strahlen in den Nacken, aber auch zu den Schläfen und Ohren hin aus.
Starke Zähneknirscher setzen ihr Gebiss und ihr Kausystem einem enormen Druck aus. Frauen erreichen
zwischen den Zahnreihen einen Druck von bis zu 300 Kilo, Männern sogar 400 Kilo, wie man der
Internet-Seite der Schweizer Zahnarztpraxis Niederdorf entnehmen kann. Die Folgen von anhaltender nächtlicher Zahnarbeit erkennt der Zahnarzt unter anderem an auffallend starken Kaumuskulatur am Kiefer und an den Schläfen, erklärt der Münchner Zahnarzt Andreas Leitner, der auf Störungen im Bereich von Kopf, Hals, Nacken und Schultern spezialisiert ist.
Hartnäckiges Zähneknirschen hinterlässt Spuren auf den Kauflächen, die so genannten Schlifffacetten.
Durch das unkontrollierte Knirschen werden die Kauflächen allmählich abgenutzt, mehr oder weniger
gleichmäßig. Durch die ständige Überbelastung können beispielsweise in Porzellanfüllungen, die
zwar hart, aber auch spröde sind, Risse entstehen. Nicht nur die Zahnsubstanz, auch das
Zahnstützgewebe leidet durch die Überbeanspruchung. Die Kaumuskulatur beginnt sich zu verkrampfen,
und die Kiefergelenke werden stark strapaziert, was zu Gelenkknacken im Kiefer führen kann.
In sehr drastischen Fällen knirschen Betroffene so lange, bis ihre Zähne bis aufs Zahnfleisch
hinuntergeschliffen sind.
Dass Menschen, die unter starkem Druck stehen, ihren Stress so sinnbildlich ausleben - »Zähne
zusammenpressen und durch!« -, hat für Fachleute eine gewisse Logik. Der Wiener Zahnarzt
Professor Rudolf Slavicek hat die Zusammenhänge schon vor etlichen Jahren in der Fachzeitschrift
»Informationen aus Orthodontie und Kieferorthopädie« so erklärt: »Pressen und
Knirschen sind notwendige, stressverarbeitende Mechanismen des menschlichen Kauorgans in psychischen
Stresssituationen.« Sie treten nach Slavicek besonders dann auf, »wenn das primäre
Problem wegen gesellschaftlicher Zwänge oder einer unbewussten Verdrängung nicht gelöst werden
kann.« Grundsätzlich eigne sich das Kauorgan des Menschen »relativ gut zur Stressverarbeitung«.
Was psychologisch hinter dem Zähneknirschen steckt, hinterfragt der Sonthofener Zahnarzt Joachim
Stoffel. Er hat zwei Grundtypen von Zähneknirschern ausgemacht: diejenigen, die auf den Frontzähnen
knirschen, und die Backenzahnknirscher. »Auf den Frontzähnen«, sagt er, »knirschen
häufig Menschen, die ihre Aggressionen nicht ausleben können. Man sieht es ja bei Kindern, sie
schieben das Kinn vor, wenn sie wütend sind, und machen damit eine Drohgebärde - dabei stehen
die Zähne aufeinander. Die Erwachsenen dürfen das nicht – sie machen ein Pokerface, und nachts
im Traum holt sie die unterdrückte Aggression ein: Sie schieben den Unterkiefer nach vorn
und reiben auf den Frontzähnen.«
Jene dagegen, die mit den Backenzähnen knirschen und mahlen, sind nach Stoffel »auf der Suche
nach innerem Halt, ein bisschen verunsichert, und sie zermalmen sinnbildlich ihre Anspannung und
Probleme auf den Backenzähnen.« Es sind eher introvertierte Menschen, die sich ihre Aggressionen
und Ängste nicht anmerken lassen möchten und gewissermaßen im Schlaf abarbeiten und ausleben. »Der
ruhige Typ ist der Zahnpresser«, sagt auch Andreas Leitner.
Zähneknirschen und –pressen kann aber auch banale mechanische Ursachen haben: eine zu hohe Füllung,
eine schlecht angepasste Krone irritiert das Zusammenspiel von Kaumuskulatur und Kiefergelenk, und
der Betreffende versucht unbewusst im Schlaf, diese »Hindernisse« zu beseitigen. Für
Stoffel und Leitner spielen die mechanischen Ursachen zwar eine Rolle, aber eine eher untergeordnete.
Es sei selten, dass ein Patient nur wegen einer zu hohen Füllung knirsche. Fast immer gehöre dazu
auch eine seelische Komponente, eben der Stress. Und: »Sehr, sehr viele Patienten knirschen
selbst auf den schönsten Kauflächen noch weiter«, weiß Stoffel.
Dass Stress die Hauptursache fürs Zähneknirschen ist, haben auch Wissenschaftler der Düsseldorfer
Heinrich-Heine-Universität herausgefunden. Unter der Leitung der Professoren Wolfgang Raab und
Matthias Franz haben das Institut für psychosomatische Medizin und die Poliklinik für präventive
Zahnheilkunde und Zahnerhaltung in einem psychophysiologischen Forschungsprojekt das nächtliche
Zähneknirschen – den Bruxismus – untersucht. Sie stellten fest, dass »mentale
Belastungssituationen«, also Konzentrationsaufgaben und hohe geistige Anforderungen, sich auf
die Kaumuskulatur auswirken – und zwar keineswegs so, dass diese angespannt werde, im Gegenteil.
Ralf Schäfer, Psychologe im Psychophysiologischen Labor der Uni: »Bei mentaler Belastung ist
die Muskelanspannung des Kaumuskels reduziert.« Man stelle sich, flapsig ausgedrückt, sozusagen
mit offenem Munde der Belastungssituation und könne sich gegen sie nicht abgrenzen. »Die normale,
gesunde Reaktion wäre, dass man die Zähne zusammenbeißt, oder, evolutionär gesprochen: die Zähne
fletscht. Das machen die Betroffenen nicht. Sie verschieben wahrscheinlich ihr Stressempfinden
und die Verarbeitung der belastenden Situation in die Nacht.«
Konventionell wird Patienten, denen man aufs Zähneknirschen gekommen ist, meist nur zur Schonung der
Zähne eine Bissplatte verordnet, die sie nachts tragen müssen. Die Wissenschaftler der Düsseldorfer
Universität prüfen nun experimentell, in wieweit sich das Zähneknirschen beeinflussen lässt, wenn
man gezielt bei der Stressverarbeitung ansetzt. In einem auf zwei Jahre befristeten Projekt untersuchen
sie seit Januar die Wirkung von psychotherapeutischen Methoden wie Stressbewältigungstraining,
Entspannungstraining und Muskel-Biofeedback auf das
Zähneknirschen.
Spezialisierte Ärzte wie der Münchner Zahnarzt Andreas Leitner plädieren schon lange dafür, das
Zähneknirschen von verschiedenen Seiten anzugehen: die mechanischen Ursachen zu beseitigen, für
die eigentlichen Ursachen zu sensibilisieren und notfalls vorübergehend auch die unzulängliche Art,
Stress zu kompensieren, medikamentös zu behandeln. »Wenn der Stress ausgeräumt ist, beruhigt
sich der Mensch – der Körper läuft nicht von allein auf Hochtouren, er wird von irgend einem
äußeren Faktor dazu getrieben«, glaubt Leitner. Auch Stoffel ist überzeugt davon: »Wenn
der Stress vergeht, dann hört auch das Knirschen wieder auf.« Er rät seinen Patienten
zuallererst zur Selbstbeobachtung. »Manchmal bringt diese Selbstbeobachtung, dieses
Sich-Bewusstmachen der Zusammenhänge, schon eine Besserung.« Bei beruflichem Stress können
Yoga und Autogenes Training helfen, manchmal aber wird auch der Gang
zum Psychotherapeuten nötig sein.
Gerade junge, berufstätige Menschen knirschen besonders häufig mit den Zähnen, hat kürzlich
die Britische Stiftung für Zahngesundheit ermittelt. »Bei Patienten über 30 sehe ich mindestens
bei jedem zweiten Abnutzungen an den Zähnen, die ich mir aufgrund des Alters und den in unseren
Kulturkreisen üblichen Ernährungsweisen nicht erklären kann«, sagt Stoffel. »Da muss
irgendwo etwas geschehen, das Stress und Druck auf die Zähne überträgt.« Eigentlich, meint
sein Kollege Leitner, sollte ein Zahnarzt neben seiner normalen Tätigkeit auch erzieherisch
auf den zähneknirschenden Patienten einwirken und ihn dazu bringen, im eigenen Interesse an
den eigentlichen Ursachen zu arbeiten. Dazu müsste er aber nach Ansicht von Stoffel psychologisch
geschult sein. Doch: »Es interessieren sich sehr, sehr wenige Kollegen für die seelischen
Aspekte ihres Berufes.« Was fehlt, ist eine ganzheitliche Betrachtung - und mehr Kooperation
von Fachleuten wie Zahnarzt, Orthopäde, Neurologe, Psychotherapeut.
Adressen:
Eine Adresse in Stuttgart für Zähneknirscher finden Sie unter http://www.anti-zaehneknirschen.de/
Interessanter Link zum Thema:
http://medi-report.de/nachrichten/2000/02/20000212-03.htm
|