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Artikelarchiv von Maja Langsdorff
Der folgende Artikel erschien am 14. August 2007 in der »Stuttgarter Zeitung«.

Artikel zum Thema:

»IGeL öffnen Patientenportemonnaies«

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Stichwort: Das »Maß des Notwendigen«  /  Kommentar: Gefährliche IGeL

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IGeL öffnen Patientenportemonnaies

Ein Check-up hier, eine Untersuchung da - besonders gut verdienenden, gebildeten Patienten offerieren Ärzte gern kostenpflichtige Gesundheitsleistungen

Nicht alles, was medizinisch sinnvoll ist, ist auch unbedingt notwendig. Viele Zusatzleistungen, die Ärzte empfehlen, zahlt die Kasse zahlt nicht. Ihr Nutzen ist häufig umstritten, die Patienten bleiben verunsichert zurück. Eine Milliarde Euro werden auf diesem zweiten Gesundheitsmarkt inzwischen umgesetzt.

von Maja Langsdorff

Ein echter Igel Eigentlich suchte Ute K., 41, den neuen Orthopäden nur wegen Schulterbeschwerden auf. Der Arzt untersuchte sie jedoch von Kopf bis Fuß, ließ sieben Röntgenbilder anfertigen und eröffnete ihr dann, sie habe außer einem behandlungsbedürftigen Verschleiß an Schulter und Hüften auch eine hochgradig abgenutzte Wirbelsäule. Danach händigte er ihr viel Papier aus: vorgefertigte Verträge für Privatbehandlungen, die nicht von der Kasse finanziert werden.

Individuelle Gesundheitsleistungen, kurz: IGeL, nennen sich solche Angebote, die nicht unbedingt nötig sind, aber hilfreich sein können. Sie müssen selbst bezahlt werden, denn sie finden sich nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen. Diese zahlen nur, was der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) der Kassen- und Ärztevertreter als »ausreichend, zweckmäßig, wirtschaftlich und medizinisch notwendig« einstuft.

Die Wirksamkeit mancher IGeL ist jedoch umstritten, wissenschaftlich (noch) nicht nachgewiesen oder nicht ausreichend belegt. Für mehr als 320 Leistungen muss der Patient selbst löhnen – Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen, Atteste, alternative Heilverfahren oder labordiagnostische Leistungen wie Blutgruppenbestimmungen. Die Kosten hat der Arzt im Vorfeld zu benennen. Er muss nach der Gebührenordnung für Ärzte (GoÄ) abrechnen, kann aber bei entsprechender Begründung den 2,3fachen oder gar 3,5fachen Satz verlangen.

Ute K. wurden Injektionen zum Knorpelaufbau und zur Stabilisierung des Bindegewebes angeboten, Kostenpunkt: fast 700 Euro. Beim zweiten Besuch riet der Orthopäde zu einer ergänzenden Magnetfeld- und Lasertherapie, zusammen 550 Euro. Alle Angebote drückte die Arzthelferin der Patientin beim dritten Termin erneut in die Hand. Ute K. ließ sich nur auf eine computergestützte Fußdruckmessung für 70 Euro ein. Versehentlich trat sie dabei mit einem Fuß nicht korrekt auf – prompt offerierte man ihr eine Gleichgewichts- und Koordinationsprüfung: 27 Euro. Um dem penetranten Druck zu entgehen, wechselte Ute K. den Arzt.

Bundesärztekammerpräsident Jörg-Dietrich Hoppe mahnte schon 2005, Patienten dürfe nichts aufgedrängt werden; die Ärzteschaft formulierte diesen Grundsatz auf dem Ärztetag 2006 als eines von zehn Geboten im Umgang mit IGeLn. Dennoch berichten Verbraucherzentralen, dass immer mehr Ärzte ihre Patienten mit IGeLn bedrängen.

240 Milliarden Euro werden jährlich für Gesundheit ausgegeben, 60 Prozent davon entfallen auf die gesetzlichen Krankenkassen. Die Gesundheitsreform schreibt Wirtschaftlichkeit vor. Was

»das Maß des Notwendigen übersteigt«

darf nicht die Solidargemeinschaft belasten. Dazu gehören etwa zusätzliche jährliche Gesundheits-untersuchungen. Vorsorgeuntersuchungen mit Ganzkörpercheck, Blutzucker-, Cholesterin- und Urinkontrolle stehen jedem ab 35 Jahren zu, aber nur alle zwei Jahre. Ergänzende Untersuchungen von Leber- und Nierenwerten, Schilddrüsen- und Lungenfunktion kosten extra, ebenso spezielle Früherkennungs-Untersuchungen zu Grünem Star, Haut-, Prostata- und Brustkrebs. Neu ist lediglich eine Beratungspflicht zu Früherkennungsunter-suchungen von Brust-, Darm- und Gebärmutterhals-krebs. Reisemedizinische Beratung und Impfungen fallen wie umwelt- und sportmedizinische Beratun-gen und medizinisch-kosmetische Eingriffe unter die Rubrik Privatvergnügen. Viele neue und alternative Therapieformen zahlt die Kasse nicht.

Es laufen aber diverse Modellversuche zur Überprüfung ihrer Wirksamkeit. So werden u.a. die Kosten für Akupunktur zur Behandlung chronischer Schmerzen übernommen.

Das Wissenschaftliche Institut der AOK (WidO) fand heraus, dass jedem vierten Kassenpatient in den letzten zwölf Monaten kostenpflichtige Zusatzleistungen angetragen wurden, vor allem von Gynäkologen, Augenärzten und Urologen, Hautärzten und Orthopäden. Besonders wer gebildet ist und gut verdient, wird gern angesprochen.

Der Arzt als Verkäufer, der Patient als zahlender Kunde – das ist, so Professor Heiner Raspe vom Lübecker Institut für Sozialmedizin, »leider zunehmend Realität«. Drei Viertel derjenigen, die Erfahrungen mit IGeLn haben, fürchten, dass sich das Vertrauensverhältnis zum Arzt verschlechtert, weil sich nicht wissen, ob sie wirklich uneigennützig beraten werden oder ob da nicht auch materielle Interessen im Hintergrund stehen. »Wer seine neuen, kostenpflichtigen individuellen Gesundheitsleistungen anpreist wie ein Gebrauchtwagenhändler, der hat das Wesen der Beziehungsmedizin nicht begriffen«, schrieb Harro Albrecht letztes Jahr in der Wochenzeitschrift Die Zeit (3.8.2006).

IGeL sichern einerseits dem (potenten) Patienten eine umfassende Versorgung, andererseits sind sie für Arztpraxen der Zukunft eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Etwa jeder zweite Arzt, der in einer gemeinsamen Studie der GfK und der Stiftung Gesundheit befragt wurde, gab an, seine Praxis sei ohne diese Zusatzleistungen auf Dauer nicht wirtschaftlich zu betreiben. Um so mehr wettern Mediziner gegen »schwarze Schafe, die Selbstzahlerleistungen dazu missbrauchen, Patienten Geld aus der Tasche zu ziehen«, so Hauke Gerlof in der Online-Ausgabe der Ärzte Zeitung (12.7.2007). Tatsächlich werden auch Leistungen privat berechnet, die die Kasse zahlen würde – etwa am Quartalsende, wenn das Arztbudget ausgeschöpft ist – oder die medizinisch nicht sinnvoll seien und allein »aus kommerziellen Gründen vermarktet werden«, sagt Professor Michael Kochen, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin. Ein alarmierendes Beispiel sind Manager-Check-ups, vor denen unlängst das Bundesumweltministerium warnte. Radiologen bieten Gesunden an, als freiwillige Früherkennungsuntersuchung den gesamten Körper per Computertomographie (CT) durchstrahlen zu lassen – eine bedenkliche Sache: Die Strahlendosis einer CT ist so hoch, als ließe man ein Jahr lang täglich ein bis zwei Röntgenbilder machen.

Empfiehlt ein Arzt IGeL, sollte man sich Zeit lassen, Informationen zum gesundheitlichen Nutzen erbitten und bei der Kasse nachfragen, warum sie die Kosten nicht trägt. Das rät Sandra Haferkamp von der Stuttgarter Beratungsstelle der Unabhängige Patientenberatung Deutschland (UPD), die verunsicherte und überforderte Patienten kostenfrei berät. Denn wer IGeL-Angebote sorgfältig prüft, minimiert das Risiko, Geld für medizinisch nutzlose, unzureichend geprüfte oder sogar risikoreiche Leistungen auszugeben.

Kommentar: Gefährliche IGeL

IGeL polarisieren: Die einen verteidigen sie angesichts der Sparzwänge im Gesundheitswesen als medizinisch notwendige, sinnvolle Ergänzungen der Kassenleistungen. Die anderen bangen um das ärztliche Ansehen.

Tatsache ist: die Idee, Selbstzahlerleistungen anzubieten, wurde 1998 aus einer Notsituation geboren. Winfried Schorre, seinerzeit Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, suchte neue Geldquellen für die Kollegen und erfand die IGeL, die sich zu einem zweiten Gesundheitsmarkt mit einem erheblichen ökonomischen Potential auswuchsen. IgelDer verantwortungsbewusste und sensible Umgang mit IGeLn bedeutet für die Ärzteschaft ein Agieren zwischen wirtschaftlichen Zwängen und ethischen Grenzen. Offen ist, wie und ob sich der Markt mit Wunschleistungen zukünftig regulieren und kontrollieren lässt. Der Berliner Allgemeinmediziner Hans-Peter Hoffert meinte schon 2004: »Wir dürfen nicht zulassen, dass der Arzt zum Kaufmann und der IGeL zum Haustier des Beutelschneiders wird.«

Wenn IGeLn dazu führt, dass Patienten mit Unbehagen den Arzt aufsuchen und sich im Zweifel sind, ob die teuere Zusatzleistung mehr dem Arzt dient als ihnen selbst, dann stimmt etwas nicht in unserem Gesundheitssystem. Und: IGeLn kann schnell in eine Zwei-Klassen-Medizin münden. Wer sich’s leisten kann, wird umfassend, vielleicht sogar überversorgt. Wem es an Geld mangelt, der muss sich mit einer Minimalversorgung begnügen. Eine Versorgung, die das »anerkannt Notwendige« abdeckt, ist nur ausreichend, nicht optimal. Das Bessere ist immer der Feind des Guten.

Interessante Links zum Thema:

Unabhängige Patientenberatung Deutschland

Verbraucherzentrale

»ABC der Krankenkassen«

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