Wenn die Alternative heißt: Duschen oder ZähneputzenEine rätselhafte Krankheit zwingt aktive Menschen in ihren besten Lebensjahren in die Knie / Hauptsymptom ist eine extreme Form der ErschöpfungKaum ein Arzt kennt sich mit der Materie aus, eine effektive Therapie gibt es nicht, und die Wissenschaft tappt im Dunkeln. Am Chronischen Erschöpfungssyndrom zu leiden bedeutet stark eingeschränkt und zugleich von der Umwelt unverstanden zu sein. von Maja Langsdorff Allen Betroffenen gemeinsam ist eine lähmende Müdigkeit, Erschöpfung und Antriebsschwäche. Doch jede/r einzelne hat außerdem zahlreiche weitere Beschwerden: Benommenheit, Infektionen, Muskel- und Gelenkschmerzen, Lymphdrüsenschwellungen, Schlafstörungen und anderes. 300.000 Menschen aller Altersgruppen leiden nach Schätzungen des Bonner Vereins Fatigatio am Chronischen Erschöpfungssyndrom (Chronic Fatigue Syndrome - CFS), einem komplexen Krankheitsbild, das die Leistungsfähigkeit und Lebensqualität der Erkrankten oft jahrelang massiv und für Nichtbetroffene unvorstellbar beeinträchtigt. »Offiziell nennt man es chronisches Erschöpfungssyndrom«, sagt der CFS-kranke neuseeländische Arzt Ken Jolly, »aber ich nenne es chronisches Zerstörungssyndrom. Es ruiniert Dein Leben«. Eine Betroffene beschreibt es so: »CFS zu haben heißt, in einem lähmenden Nebel aus tausend Beschwerden, Schmerzen und dieser absurden Erschöpfung leben zu müssen, jeden Tag, jahrelang!« Und Elke, Teilnehmerin einer Diskussionsliste für CFS-Kranke im Internet, beklagt: »Es gibt kein Leben mit der Krankheit, unmöglich. Alles, was ich tue, ist schon immer ein 'gegen' die Krankheit leben.« Doch die Betroffenen leiden nicht nur unter ihrer rätselhaften Krankheit selbst. Sie müssen fast täglich erleben, dass ihre Umwelt sie für Hypochonder, psychisch gestört oder willensschwach hält. Der Arzt Hans-Michael Sobetzko befasst sich seit zehn Jahren mit der Problematik. Er ist Mitinitiator eines CFS-Forschungsprojekts am Hamburger Krankenhaus Rissen (Arbeitsgruppe Professor Stark). Er sagt: »Von der Umwelt wird CFS wegen eines meist relativ stabilen äußeren Eindrucks oft als übertrieben dargestellte, seelisch begründete Befindlichkeitsstörung abgetan«. Wer an CFS leide, erlebe zwangsläufig eine Kollision mit gesellschaftlichen Leistungsnormen. Ein Drittel bis zur Hälfte könne keiner geregelten Arbeit mehr nachgehen, oft nicht einmal mehr den eigenen Haushalt versorgen. Schlimmstenfalls müssen sie abwägen, ob ihre Kraft ausreicht zu duschen und die Zähne zu putzen, oder ob nur eines davon geht. »Arbeitsunfähigkeit, Kosten für Diagnostik bzw. Behandlung und Berentung sind Stationen eines Weges in soziales Abseits und Armut«, sagt Fatigatio-Vorsitzender Helmut Uhlisch, denn in Deutschland fehle eine angemessene medizinische Versorgung. Weil sie äußerlich gesund wirken und medizinische Checks keinerlei verdächtige Befunde liefern, geraten CFS-Kranke in die fatale Situation, sich permanent rechtfertigen zu müssen. »Das war für mich einer der schmerzlichsten Faktoren: das Unverständnis, das Abgelehntwerden, wenn man doch selbst schon so sehr darum ringt, seine Leistungen irgendwie aufrecht zu erhalten«, sagt Sonja, 37, vor zehn Jahren erkrankt. Die ehemalige Lehrerin Ingrid Kiehl-Krau, ebenfalls seit zehn Jahren krank, beschreibt die Folgen in drastischen Worten: »CFS-Kranke haben keine scheußlichen Geschwüre und sterben auch nicht wie die Fliegen. Sie verschwinden einfach aus dem Alltag«. CFS ist, nach dem wenigen, was man bisher weiß, keine tödliche Krankheit. Britische Ärzte gehen davon aus, dass sich 35 Prozent der Betroffenen langsam aber stetig erholen, 40 Prozent einen wechselhaften Verlauf haben, 20 Prozent schwer eingeschränkt bleiben und 5 Prozent eine kontinuierliche Verschlechterung erleben. Sobetzko sagt: »50 Prozent erholen sich, 50 Prozent bleiben krank, ohne dass man weiß, warum«. Wie man einer Broschüre des Centers of Disease Control and Prevention (CDC) in Atlanta/USA entnehmen kann, ist die Krankheit gekennzeichnet häufig durch einen zyklischen Verlauf, bei dem sich Phasen der Krankheit mit denen relativer Gesundheit abwechseln. Einige Patienten erholen sich bis zu einem gewissen Grad, genesen aber fast nie vollständig. Meist - in drei Vierteln aller Fälle - beginnt CFS abrupt; innerhalb weniger Stunden oder Tage wird aus einem gesunden, aktiven, leistungsfähigen Mensch ein Patient, dessen Erschöpfung »absurde Ausmaße annimmt«, sagt Sobetzko. Charakteristisch findet er, dass viele Betroffene genau zurückdatieren können, an welchem Tag sich ihr Leben schlagartig geändert hat. Manche berichten aber auch von einem einschleichenden Beginn ihrer Krankheit. Betroffen sind deutlich mehr Frauen als Männer. Die Mehrzahl ist zwischen 25 und 45 Jahren alt. Mit dem Einsetzen der Krankheit, die zunächst mit Halsschmerzen, Fieber, schmerzenden Gliedern alle Symptome einer schwere Grippe trägt, beginnt für die Betroffenen eine oft jahrelange Odyssee von Arzt zu Arzt. »Konsultationen bei fünf, sechs, sieben Ärzte sind normal«, sagt Sobetzko. Es gibt keine charakteristischen und messbaren Befunde für die Krankheit wie Laborwerte oder Röntgenaufnahmen. Die Diagnose kann nur im Ausschlussverfahren gestellt werden. Das bedeutet, durch gründliche Untersuchungen müssen andere Krankheiten ausgeschlossen werden, die zu Erschöpfungszuständen führen können, etwa massive Schlafstörungen, Hepatitis, Alkohol- und Drogenmissbrauch oder Depressionen. Die CFS-Kriterien für Erschöpfung sind erfüllt, wenn sie neu auftrat, also nicht schon lebenslang besteht, sie nicht auf eine anhaltende Überlastung zurückzuführen ist, sie sich durch Ruhe nicht spürbar bessert und »zu einer substantiellen Einschränkung früherer Aktivitäten in Ausbildung und Beruf sowie im sozialen und persönlichen Bereich führt«, erklärt Sobetzko. Dazu müssen vier von acht Symptomen über einen zusammenhängenden Zeitraum von sechs Monaten ständig nebeneinander existiert haben, die vorher nicht aufgetreten sind: schwere Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Halsschmerzen, empfindliche Hals- und Achsellymphknoten, Schmerzen in Muskeln und/oder Gelenken, Kopfschmerzen in einer zuvor nicht aufgetretenen Form und Stärke, keine Erholung durch Schlaf, und nach Anstrengungen verschlechtert sich der Zustand für mehr als 24 Stunden. Ob es sich bei CFS um eine einzelne Krankheit oder um eine Gruppe verschiedener Krankheiten oder Vergiftungen handelt, ist längst nicht geklärt. Trotz vieler Verdachtsmomente gibt es keine wissenschaftlichen Beweise dafür, dass beispielsweise bestimmte Viren, Borrelien, Pilze, Störungen des Hormonsystems, psychologische Faktoren oder nervenschädigende Substanzen und Umweltgifte die auslösenden Faktoren sein könnten. Eine Hypothese ist, dass ein aus unklaren Gründen chronisch aktiviertes Immunsystem CFS verursacht. Da die Ursachen im Dunkeln liegen, können auch nur die Symptome behandelt werden. Ob Medikamente den Erholungsprozess begünstigen, ist umstritten - viele Betroffene reagieren übersensibel auf Medikamente. Leben mit CFS bedeutet heute, mit der Krankheit umgehen lernen zu müssen (»Krankheitsmanagement«), also bestimmte Strategien, Ansätze und Hilfen möglichst effektiv einzusetzen: den Lebensstil so weit anzupassen, dass Rückfälle durch Überlastungen vermieden werden, mit Stress vernünftig umzugehen, das Umfeld zu informieren, Schmerzen behutsam mit Medikamenten im Griff zu halten. Sobetzko rät allen Patienten zu einem geregelten Lebensablauf: »Schaff dir ein Grundprogramm, das du auch an schlechten Tagen noch bewältigst«. Gerade wenn jemand allein lebe - und viele Partnerschaften zerbrechen über der Herausforderung CFS -, sei die Gefahr groß, in Lähmung und Depression zu versinken. Er hält auch eine Verhaltenstherapie für hilfreich, um seelisch wieder auf die Beine zu kommen. Denn letztlich ist die körperliche Erkrankung eine extreme Belastungsprobe für die Psyche: »Man muss lernen, auf einmal mit ein paar Minuten klar zu kommen, wenn man vorher 16 Stunden am Tag gearbeitet und daraus eine Menge Selbstbestätigung gezogen hat.« Mit CFS klar zu kommen, erfordert einen Lernprozess - beschreibt Sonja: »Es war wie ein Rennen gegen meine eigenen inneren Windmühlen. Aber als ich nachgab, da ging es auf einmal voran. Als das Sträuben und Wehren verstummte, war auf einmal Platz für etwas Neues, für die ersten Schritte Richtung Heilung«.
Literaturempfehlungen zum Thema:
Adressen:
Forschungsprojekt »CFS« Selbsthilfegruppe für Pilzerkrankungen und Chronische Müdigkeit - CFS und MCS - Berlin e.V. Bundesweite Selbsthilfegruppe Multiple Chemical Sensitivity (MCS) - Fatigatio e.V.
Interessante Links zum Thema:Homepage Hans-Michael Sobetzko mit umfassenden Hintergrundinformationen:
http://www.cfs-portal.de/
oder http://members.tripod.de/cfs/ |
»Eigentlich,« |
Jede Bewegung ein Kraftakt
Der Alltag wird mit CFS zur LebensaufgabeUnter der rätselhaften Krankheit zu leiden, die sich CFS nennt, ist für einen gesunden Menschen kaum nachvollziehbar. Wie der ganz »normale« Alltag für eine Betroffene aussieht, schildert Monika E., 36, bis zum Ausbruch ihrer Krankheit Sozialpädagogin. Mein morgendliches Erwachen ist ein böses. Ich fühle mich regelmäßig so zerschlagen wie auf dem Höhepunkt einer Grippe und bin wesentlich erschöpfter als am Abend vor dem Schlafengehen. Meine Lymphdrüse schmerzen, und oft ist meine Temperatur erhöht. Oft habe ich morgens Herzrasen. Ich bin immer sehr unbeweglich und habe starke Muskelschmerzen. Es ist meist ein regelrechter Kraftakt, mir das Frühstück zu zubereiten. Erschöpft sitze ich dann bis zu zwei Stunden, bis ich es schaffe duschen zu gehen. Auch das ist anstrengend. Danach verbringe ich die nächsten vier bis sechs Stunden durchgehend sitzend, weil ich vor Erschöpfung, Elendsgefühlen und Schmerzen nichts anderes tun kann. Am Nachmittag stellt sich häufig etwas ein, das entfernt an Energie erinnert. Mit Disziplin und Willenskraft mache ich dann das Notwendigste im Haushalt wie Abwaschen, etwas Aufräumen, Betten machen. Meist schaffe ich nur einen Teil, manchmal gar nichts. In »guten« Zeiten fahre ich den einen Kilometer mit dem Auto ins Dorf um etwas einzukaufen. Von diesen Anstrengungen erschöpft verbringe ich den Abend wieder sitzend, manchmal liegend. Jede Bewegung ist für mich beschwerlich und mit Schmerzen verbunden. Ich habe das Gefühl, dass ich alles, was ich tue, im Wesentlichen mit meinem Willen und nicht mit tatsächlicher körperlicher Energie schaffe. Wenn ich nicht genau wüßte, dass ich erst Mitte dreißig bin, würde ich mich meinem Körpergefühl nach für mindestens Mitte neunzig halten. Wenn ich mich überanstrenge, was schnell passiert ist, geht es mir für Stunden oder Tage noch schlechter. Geistig fühle ich mich zeitweise durch starke Konzentrationsstörungen gehandikapt. Es ist mir dann kaum möglich Informationen aufzunehmen oder mich an die einfachsten Dinge zu erinnern. Diese Zustände kommen mir vor wie totale Blackouts. Ich habe Schwierigkeiten zu lernen. So könnte ich problemlos jedes Vierteljahr das gleiche Buch lesen, da ich große Teile des Inhalts schon wieder total vergessen habe. Glücklicherweise unterstützt mich mein Lebenspartner und übernimmt auch im Bereich Versorgung und Haushalt alles, was ich nicht schaffe, also: das meiste. Mein Leben wird nicht nur durch meine Beschwerden beeinflusst, sondern auch durch die Tatsache, dass ich nach außen überhaupt nicht krank wirke. Dies ist eine Quelle für Verständigungsschwierigkeiten und Missverständnisse. Zeitweise bin ich deprimiert über meinen beschwerlichen und einschränkenden Zustand, durch den mir viele Möglichkeiten verschlossen bleiben wie etwa eine berufliche Karriere oder die Gründung einer eigenen Familie. Im Alltag schwerer zu verkraften ist aber der Verzicht auf die vielen kleinen Annehmlichkeiten des Lebens, und sei es nur ein Einkaufsbummel oder Unternehmungen mit Freunden. Belastend ist auch die Ungewissheit über den weiteren Krankheitsverlauf, da es bisher keine adäquate Therapie gibt und die Krankheit in der deutschen Forschung auch noch keine nennenswerte Beachtung gefunden hat. So ist es schwer, überhaupt ärztliche Hilfe zu finden. Die Symptome werden häufig als Alltagsbeschwerden missverstanden oder erst gar nicht realisiert. |