Artikelarchiv von Maja Langsdorff
Die folgenden Artikel wurden am 23.9.1997 in der »Stuttgarter Zeitung« veröffentlicht
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Ein Messer im Arm und das Genick stocksteif
Halsbandscheibenvorfälle müssen nicht immer operiert werden
Bandscheibenvorfälle in der Halswirbelsäule sind nicht ungefährlich.
Dennoch kann in vielen Fällen auch eine konservative Therapie ohne Operation helfen.
von Maja Langsdorff
Es beginnt zum Beispiel mit dem Gefühl: Oh je, schon wieder ein steifer Hals! Bald aber stellt
sich auch noch ein ziehender Schmerz im Unterarm ein. Der Nerv zwischen Schulterblatt und Hand
scheint ein bis zum Zerreißen überdehntes Gummiband zu sein. Ameisen im Daumenballen, abgestorbene
Finger, manche Hautpartien taub, eine Schwäche im Arm - bei diesen Symptomen wird ein erfahrener
Orthopäde oder Neurologe auf einen Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule tippen. Er wird
gründliche neurologische Untersuchungen einleiten und eine Computer- oder Kernspintomographie anordnen.
Bandscheibenvorfälle in der Halswirbelsäule gelten als extrem selten. Im Lendenbereich sind sie
viermal häufiger, sagt der Neurochirurg Christoph Hamburger vom Münchner Klinikum Großhadern.
Ischias und Hexenschuss sind die bekanntesten Leiden, die Bandscheibenschäden in der Lendengegend
auslösen können. Patienten mit Vorfällen am Hals suchen oft vergeblich nach einschlägigen Informationen.
Allgemeinverständliche Veröffentlichungen behandeln meist Vorfälle in tieferen Regionen, die mit
denen am Hals wenig gemeinsam haben. Wegen der anderen anatomischen Verhältnisse bedrohen
Bandscheibenvorfälle im Lendenbereich in aller Regel eine oder mehrere Nervenwurzeln, nicht aber
das Rückenmark. Bandscheibenvorfälle am Hals werden wegen der Gefahr von Lähmungen nicht öfter,
aber oft schneller operiert.
Häufig sind Bandscheibenvorfälle am Hals ein Problem des Alterns, nicht aber des Alters. »Wir
haben Patienten zwischen 14 und 84, sportlich, unsportlich, dick, dünn«, sagt Hamburger.
Die Bandscheiben, beim Jugendlichen prall mit Flüssigkeit gefüllt und elastisch, verändern sich
mit dem Alterungsprozess. Und der setzt früh ein. Professor Ernst Grote von der Neurochirurgischen
Klinik der Universität Tübingen: »Die Degeneration fängt im 20. Lebensjahr an, und sie trifft
den sitzenden Beamten genauso wie den schwerarbeitenden Maurer.« Er ist überzeugt, dass alle,
die ausschließlich sitzen oder stehen, ein erhöhtes Risiko tragen - und Raucher. Bei diesen werde
nämlich die Versorgung der Bandscheiben mit Sauerstoff behindert.
Bandscheibenvorfälle sind an sich keine Seltenheit; jeder fünfte Mensch hat einen. Die meisten ahnen
davon nichts, weil der Vorfall selbst nicht zwangsläufig Beschwerden verursacht. Erst wenn ein
Nerv bedrängt wird, entstehen Schmerzen. Das heißt aber noch lange nicht, dass operiert werden muss.
Eine Halsbandscheiben-OP sei »nur das äußerste Mittel und obendrein sehr kompliziert«,
meint Walter Oberländer, Redaktionsberater der Zeitschrift »medizin heute«. Als Mitte
der achtziger Jahre Computertomographien aufkamen, und später Kernspintomographien, die sehr präzise Aufnahmen
der Wirbelsäule möglich machten, führte das hier und da zu einer, vorsichtig ausgedrückt, größeren
Bereitschaft, rasch zu operieren.
Doch weder einige Wochen Schmerzen noch ein tomographisch abgesicherter Befund sind generell ein
Anlass zur Operation am Hals. Fast jeder Orthopäde, Neurologe und Neurochirurg sagt irgendwann den
Satz: »Wir operieren nicht das Bild, sondern einen Mensch.« Das heißt: Man korrigiert
nicht eine veränderte Anatomie, sondern beseitigt eine Funktionsstörung, die sich in Schmerzen oder
Lähmungen ausdrückt. Eine Operation beseitigt normalerweise rasch die Schmerzen. Nur ändere sie
nichts an der Tatsache, dass Abnutzungserscheinungen an der Wirbelsäule vorliegen, betont Christoph
Hamburger: »Die Operation nimmt den Druck auf den Nerv. Damit ist der Mensch in der Regel 'wie
neu geboren'.«
Mag die Operation eines Halsbandscheibenvorfalls für Fachärzte eine Routineangelegenheit sein - der
Patient sollte vor einem so schweren Eingriff möglichst eine zweite Meinung hören. Oft besteht nämlich
die Chance zur Selbstheilung - ein Prozess, der sich allerdings über Monate hinziehen kann.
Operationen sind nur in drei Fällen angesagt: wenn akut Lähmungen auftreten, wenn Lähmungen trotz
konservativer Behandlung (siehe »Chirurgische Methoden«) fortbestehen oder sich verstärken, und wenn sich die Halsbandscheibe
in Richtung Rückenmark (medial) vorwölbt. Das passiert selten, »aber dann brennt's«, sagt
Hamburger. Ohne rasche Operation droht im schlimmsten Fall eine Querschnittslähmung.
Meistens jedoch tritt das Bandscheibenmaterial nicht medial, sondern seitlich aus, so dass »nur« eine
Nervenwurzel massiv bedrängt und gereizt wird, sich entzündet und anschwillt. So unangenehm die Schmerzen
dann sein mögen, sie sind nur Begleitsymptom. Alarmierender sind Auffälligkeiten, die auf
Nervwurzelschädigungen hindeuten: Kribbeln, Taubheit, Schwäche. Da jeder Nerv für einen bestimmten Muskel
zuständig ist, bedeutet eine Schädigung oder das Absterben eines Nervs auch Gefahr für die Muskulatur.
Je nachdem, zwischen welchen Halswirbeln der Bandscheibenvorfall liegt, können der Armstrecker (Trizeps),
der Armbeuger (Bizeps) geschwächt und gelähmt oder einzelne Finger dauerhaft taub werden.
Die Operation mag der schnellere, manchmal der einzige Weg sein, die Beschwerden dauerhaft loszuwerden.
Für das Danach ist entscheidend, dass der Patient die Verantwortung für seinen Körper übernimmt und,
wie Grote sagt, »körperbewusster wird und weniger Raubbau betreibt«. Immer mehr Patienten
kämen mit dem Anspruch »Doctor, fix it«, kritisiert auch Hamburger. Die Muskulatur und
damit das Bindegewebe durch eine regelmäßige, leichte Ausgleichsgymnastik zu stärken, ist aber die
einzige Möglichkeit, weiteren Problemen vorzubeugen. Vorbeugung empfiehlt sich auch für (noch)
Gesunde: Wer häufig ein schmerzendes oder steifes Genick hat und viel sitzt, sollte nicht warten,
bis ihm »die Faust im Nacken« sitzt.
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