Artikelarchiv von Maja Langsdorff
Der folgende Artikel erschien am 13. Oktober 2007 leicht gekürzt in der »Stuttgarter Zeitung«.
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Vergesslich ja, aber nicht verblödet
Aufklärung, Empathie und ein anderes Bild von Demenz sind nötig, um Menschen mit Alzheimer zu mehr Lebensqualität und Wohlbefinden zu verhelfen
Mit der steigenden Lebenserwartung nimmt die Zahl jener zu, die an Alterskrankheiten wie Alzheimer leiden. Patienten
im frühen Erkrankungsstadium fühlen sich wegen ihrer Vergesslichkeit oft nicht mehr ernst genommen.
von Maja Langsdorff
Die farbig markierten Passagen in den Kästen wurden mit freundlicher Genehmigung des Verlags dem Buch „Ich habe Alzheimer“ von Stella Braam entnommen, erschienen bei Beltz Weinheim, 2007. |
Es war René, der sagte:»Alzheimer ist ein Abenteuer. Demenz ist etwas Neues in meinem Leben.
Da bin ich blitzschnell dabei.« Er interessiert sich brennend für die Veränderungen in seinem
Geist. »Herr van Neer merkt, dass seine Wahrnehmungen nicht immer mit den wirklichen Ereignissen
übereinstimmen, und erklärt manchmal, er finde das spannend«, notiert eine Pflegerin.
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Die Alzheimer-Krankheit beginnt schleichend und ist nach heutigem Stand der Forschung nicht heilbar; man kennt ihre genauen
Ursachen nicht. Jahr für Jahr erkranken 250.000 Menschen neu an Demenz, etwa zwei Drittel davon an Alzheimer. »Alter
ist der größte Risikofaktor«, sagt Professor Konrad Maurer, Direktor der Psychiatrischen Klinik der Universität Frankfurt.
Und der Leiter der Gedächtnissprechstunde der TU München, Professor Alexander Kurz, zitiert eine erschreckende Prognose:
»2030 rechnet man mit bis zu 2,5 Millionen Erkrankten.« Die Krankheit breitet sich nicht epidemisch aus; die Zunahme
hängt direkt mit der demographischen Entwicklung zusammen. In den nächsten drei Jahrzehnten wird es sieben Millionen mehr
Ältere geben. Zehnmal so viele Menschen wie vor hundert Jahren sind heute älter als achtzig; viermal so viele älter als 65.
Das Risiko, an Demenz zu erkranken, beträgt jenseits der sechzig »nur« ein Prozent, über achtzig aber schon
etwa zwanzig Prozent.
René nimmt fast täglich an ›Arbeitskreisen‹ teil … Hin und wieder schämt er sich
für seine ›Kommilitonen‹. »Manche schlafen einfach ein. Plötzlich hört man Schnarchen!
Für den Dozenten bestimmt nicht angenehm. Aber ach«, beschwichtigt er, »es sind ältere Studenten.
Da kann so etwas passieren.«
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»Demenz«, sagt Peter Wißmann, Geschäftsführer von Demenz Support Stuttgart, »ist eine Krankheit, die riesige
Abwehr und Angst produziert – bei allen.« Für Angehörige bedeutet das: Entfremdung, Trauer, Verlust, massive
Veränderungen und Beeinträchtigungen im Alltag, gestörte Nachtruhe, Konflikte, körperlicher Einsatz, soziales Abseits,
zu wenig an psychosozialen Hilfen, finanzielle Einbußen. Betroffene erleben die Diagnose »Alzheimer« nicht selten
als »initialen Schock, ähnlich wie bei Krebs«, sagt Elisabeth Stechl. Die Neuropsychologin gehört zur Forschungsgruppe
Geriatrie am Evangelischen Geriatriezentrum in Berlin und hat 25 Interviews mit Dementen im Frühstadium geführt. Eben oft noch
mitten im Leben stoße die Diagnose die weitere Lebensplanung um, bedrohe Autonomie und Selbständigkeit, stigmatisiere. Viele
Betroffene reagieren mit Depressionen, manche mit Wut, andere mit Verzweiflung oder Bestürzung, obwohl sie die Veränderungen
ja selbst wahrnehmen: das Kurzzeitgedächtnis will nicht mehr so recht, sie lernen schwerer, vergessen Neues wieder, finden Worte,
Gegenstände, Orte nicht mehr. Die Diagnose »Alzheimer« macht sie von jetzt auf eben zum Patienten, der oft nicht
mehr ernst genommen und auf seine Vergesslichkeit reduziert wird.
»Herr van Neer ließ sich heute Morgen nicht versorgen, auch nicht von Kollegen, war überzeugt, alles
selbst zu können.« René: »Mein Leben lang habe ich mich selbst angezogen. Warum mischen
sich andere ein? Bin ich denn schwachsinnig?«
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»Ich bin nicht doof, nur vergesslich«, wehrte sich die Martina Peters, 41, letztes Jahr auf dem Alzheimer-Kongress
in Berlin, eine der seltenen jungen Alzheimerpatientinnen und der wenigen, die selbst über ihre Krankheit sprechen.
Außenstehende wissen wenig darüber, wie Betroffene den unaufhaltsamen Sturz ins Vergessen erleben, diesen Prozess, bei
dem zwischen den ersten wahrnehmbaren Symptomen und dem Tod neun bis zehn Jahre liegen. In dem anrührenden Buch »Ich
habe Alzheimer« ermöglicht die niederländische Journalistin Stella Braam eine Innenschau. Sie dokumentiert Gedanken,
Empfindungen und letzte Erfahrungen ihres Vaters René van Neer, eines Wissenschaftlers und Schriftstellers um die achtzig.
»Wie heißen diese Dinger auch wieder?« René zeigt auf Trauben. »Trauben«.
»Trauben. Klar. Lästig, wenn man den Namen nicht mehr weiß. Manchmal getraue ich mich nicht mehr, mit anderen
zu sprechen, weil ich Angst habe, dass ich die Wörter vergesse … Übrigens, wo bin ich? Ist noch Geld auf dem
Konto? Wie komme ich nach Hause?«
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Spielen Betroffene im frühen Stadium ihre Probleme herab, wird ihnen, so Stechl, gern »mangelnde Krankheitseinsicht«
unterstellt. Doch sie wissen sehr wohl, wann sie überfordert sind, passen sich an ihre Fähigkeiten an, ziehen sich zurück und
meiden problematische Situationen. Die Defizite zu bagatellisieren entlastet emotional und dämpft Ängste – etwa die,
weggesperrt zu werden –, hat also auch mit Selbstschutz und Ringen um Autonomie zu tun. Zum täglichen Kampf gegen das
Vergessen kommt die Konfrontation mit den häufig überforderten Angehörigen – zwei von drei Erkrankten werden zu Hause
betreut: »Hast Du die Herdplatte wieder nicht ausgeschaltet? Hast Du den Schlüssel vergessen?« Das vermittle ein
Gefühl, nichts wert zu sein, sich verteidigen zu müssen. Stechl: »Sie fühlen sich bevormundet und sträuben sich dagegen.«
Das Nachlassen der geistigen Fähigkeiten werde als Schmach erlebt, erklärt Professor Kurz. »Deshalb verstecken sich die
Patienten, so lange es nur irgendwie geht.«
»Was ich jetzt schon wieder erlebt habe …«, sagte René. Er zeigt mir seinen
Geldbeutel. Fünfhundert Euro. »Die waren plötzlich da drin«, meint er betreten. Ihm ist völlig
schleierhaft, woher er das Geld hat. »Ich werde doch niemanden bestohlen haben?« »Das
Geld hast du selbst auf der Postbank geholt«, beruhige ich ihn.
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»Eine Demenz lässt sich nur gemeinsam bewältigen«, betont Elisabeth Stechl. Sie ist sicher, Angehörige können die
Krankheit positiv beeinflussen. Zuwendung, Einfühlungsvermögen und die Bereitschaft, die Welt mit den Augen des Erkrankten zu
betrachten, können viel bewirken. »Das Krankheitsverständnis ist das A und O. Ich muss nachvollziehen können, wie sich
das anfühlt, wenn ich fünfmal am Tag mit Fehlern konfrontiert werde.« Fehler vertuschen zu müssen, erzeugt permanenten,
unnötigen Stress. Wird dieser Druck herausgenommen, kann der Betroffene die Krankheit eher annehmen, was beide Seiten entlastet
und günstig auf das geistige und seelische Befinden wirkt. Was die Neuropsychologin auch beobachtet: »Oft wird vor lauter
Defiziten nicht mehr gesehen, was sie auch noch können.« Zum Beispiel, kreativ sein, wie die Ausstellung »demenz
art« im Theaterhaus Stuttgart (3.10. - 27.11.2007) zeigt. Die Arbeiten von dementiell veränderten Menschen aus Deutschland
und Italien entstammen keiner Beschäftigungstherapie, sondern sind Ergebnis eines freien künstlerischen Prozesses.
»Finden Sie, dass Sie an Demenz leiden?« René: »Ziemlich stark sogar. Niemand kann ihr
entkommen. Vielleicht denken Sie, es sei traurig, dass ich mich nicht dagegen wehren kann. Aber wir müssen uns über
die große Anzahl der Probleme den Kopf zerbrechen, die alte Leute mich Demenz haben … die verzweifeln, weil
sie den ganzen Tag mit ihrem Gedächtnis kämpfen. Man wird betrachtet, als habe man nicht alle beisammen. Und unser
neues Buch kommt mit der Botschaft: Wir haben etwas dagegen gefunden«, fährt er vergnügt fort. »Aber
was, das ist mir grade entfallen.«
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Kann auch der Krankheitsverlauf nicht gestoppt oder verlangsamt werden, lassen sich doch die Symptome hinausschieben, betont
Professor Kurz. So hält man den Leistungsstand vorübergehend aufrecht. Der Erkrankte gewinnt Zeit, kann etwa noch über eine
Patientenverfügung regeln, wie er im späten Stadium versorgt werden soll. »Die Götter halten die Waage eine zögernde
Stunde an«, zitiert der Psychiater Gottfried Benn, »in dem Fall ist es ein zögerndes Jahr.« Wirksam helfen
kann man nur, wenn die Diagnose im Anfangsstadium gestellt wird und die Behandlung frühzeitig ansetzt. Doch mit Medikamenten
einzugreifen, sei unsinnig, wenn man die Zeit nicht nutze. »Man muss den Menschen die Möglichkeit geben, teilzuhaben
am Leben.« Es gehe nicht um Leistung, sondern darum, »was diesem Menschen wichtig ist, was ihm Zufriedenheit und
Freude bereitet und wie man ihm dazu verhelfen kann, diese Art, sein Leben zu genießen, noch ein bisschen fortsetzen kann.«
Die »Arbeitsgruppen« laugen ihn aus. »Ich kann mich zwar konzentrieren, aber nur für kurze
Zeit.« Außerdem sagen ihm nicht alle Programmpunkte zu. »Wir haben gerade ein Bettspiel gemacht.
Ich kannte es nicht.« »Meinst du ein Brettspiel?« »Weiß ich nicht. Aber das ist nichts
für mich.« … Sein Bruder Léon nimmt ihn zur Vorlesestunde mit. Früher konnte er so etwas genießen,
nun ist es zu schwierig für ihn. »Ein typisches Beispiel für einen vollkommen misslungenen Vormittag«,
lautet nach Ablauf sein Kommentar.
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Professor Kurz gesteht offen ein, die Behandlung von Demenzkranken sei sehr aufwändig. Die Fragen, wie sich ein Leben mit Demenz
würdevoll gestalten lässt und wie man den Betroffenen zu Lebensqualität verhilft, treiben Peter Wißmann um. Die Hoffnung auf einen
Impfstoff gegen Alzheimer dürfe nicht dazu führen, dass man untätig abwarte, denn: »Demenz ist eine Form, wie Leben im Alter
aussehen kann. Man muss sich der Realität stellen und Demenz ihren Schrecken nehmen.« Schon heute gebe es viele Beispiele
dafür, »dass man dement sein und trotzdem ein relativ vernünftiges Leben mit einer ordentlichen Portion Wohlbefinden führen
kann: Leben in kleinen, wohnlichen Gruppen. Alltagsnormalität, bei der nicht so sehr die Pflege im Vordergrund steht, sondern
Leben und Alltag gestalten. Normalität. Familiäre Atmosphäre.« Auch Architektur könne helfen. Das alles aber setzt voraus,
dass neue Versorgungskonzepte erdacht und realisiert werden, dass Berührungsängste abgebaut und Kranke nicht auf ihr medizinisches
Problem reduziert werden. Als das Leben von Stella Braams Vater René zu Ende geht, schreibt sie ein Gedicht und liest es ihm vor:
Ich träume von einem Land,
in dem Menschen mit Alzheimer
einfach durch die Straßen irren können.
Auf der Suche nach ihrem Haus,
dem für immer verlorenen Zuhause.
Und dass da immer jemand ist, der sagt:
»Kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause.«
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