Artikelarchiv von Maja Langsdorff
Der folgende Artikel erschien in Heft 9 der Zeitschrift »Spielen und Lernen« im September 2004.
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Sorgenkinder mit Tempo und Fantasie
Hyperaktive Kinder brauchen Strukturen
In Deutschland haben mehr als eine halbe Million Kinder und Jugendliche Symptome einer
Störung, die schon seit mehr als hundertfünfzig Jahren als »Zappelphilipp-Syndrom«
bekannt ist. Doch nicht die Eltern haben versagt, wenn Kinder hyperaktiv und aufmerksamkeitsgestört sind.
von Maja Langsdorff
Immer das Gleiche: Nico tobt ständig herum, in seinem Zimmer herrscht Chaos, er quasselt dazwischen, wird nie rechtzeitig fertig, lässt Schulbrot und Turnzeug liegen, verpasst den Bus, vergisst die Hausaufgaben… Freunde hat er keine, und alle schimpfen immer mit ihm. Warum nur? Der Neunjährige fühlt sich ungeliebt, Eltern und Lehrer sind gereizt. Sie können nicht nachvollziehen, was in dem Kind vorgeht, was ihn antreibt oder bremst. Entweder er träumt, oder er zappelt herum, stört im Unterricht, ist aggressiv. Seine Schrift ist miserabel, er hört nicht zu. Dabei kann er so lieb und einfühlsam sein, schmust mit Baby und Hamster, ist kreativ, spontan und begeistert für alles Neue.
Nico ist nicht launisch und verzogen, ihm fehlt auch keine »strenge Hand«. Der Junge gehört zu einer immer stärker auffallenden Gruppe von Kindern mit Verhaltensstörungen: Manche sind überaktiv und impulsiv, andere dazu noch unaufmerksam, die dritten nur unaufmerksam, ohne überaktiv und impulsiv zu sein. Das Motorische - das typische Zappelphilippverhalten - ist bei einem Drittel kaum oder gar nicht ausgeprägt.
Den eigenen Gefühlen ausgeliefert
Diese Formen einer Störung haben viele Namen, am bekanntesten: Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) oder Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Aufgeklärte Eltern und Fachleute sprechen oft einfach nur von »Hypies«. Und die sind so liebenswert, meint der Hannoveraner Psychologe Georg Wolff, »wenn sie nur nicht so oft und so intensiv ‚nerven' würden!!«
Kinder wie Nico leben oft Extreme, sagt Wolfgang Bergmann, Kinder- und Jugendlichenpsychiater in Hannover. »Eben hat der Hypie noch alle zur Seite geboxt, plötzlich zieht er sich zurück, macht ein trauriges Gesicht und sagt: Ich will nicht mehr leben«. Das Grundproblem umreißt die Esslinger Kinderpsychologin Cordula Neuhaus als »eine Reizoffenheit bei Reizfilterschwäche einerseits, und eine Impulssteuerungsschwäche andererseits«. Das Kind nimmt ungeordnete Reize auf und wird damit überfordert. Weil es die Reize nicht nach ihrer Wichtigkeit filtern kann, leidet seine Konzentration. Sind die Reize zu schwach, produziert es selber welche und stimuliert sich. Die Kontrolle über das eigene Verhalten, die vom Gehirn aus gelenkt wird, misslingt. »Wenn jemand im Hirn keine Bremse hat, ist er seinen Gefühlen ausgeliefert«, erklärt die Expertin.
ADHS fällt oft erst in der Schule auf, denn im Kindergarten ist das Kind in der Aufmerksamkeit und Konzentration nicht so gefordert und kann den Bewegungsdrang besser ausleben. Da es nicht registriert, wie störend sein Verhalten ist, kann es Kritik und Bestrafung nicht nachvollziehen. Es reagiert verunsichert, ist frustriert und baut nicht selten den Frust über Aggression ab. »Aggressivität resultiert immer aus Frust, aus Minderwertigkeitserleben, aus der Angst zu versagen«, weiß die Leipziger Professorin Christine Ettrich.
Ein verbreitete Störung
ADHS ist keine Zeiterscheinung. Das Zappelphilipp-Syndrom beschrieb schon 1847 der Frankfurter Nervenarzt Heinrich Hoffmann im »Struwwelpeter«. Die Störung ist weder neu noch selten. »Es gibt nicht mehr Kinder mit ADHS, sie fallen nur mehr auf«, sagt Neuhaus. Der Aktionsradius von Kindern wird in einer auf Erwachsenenbedürfnisse zugeschnittenen Gesellschaft immer geringer: Spielräume und Freiflächen verschwinden; erlebt, erfahren, gelernt wird sitzend am PC und vor der Glotze. Der soziale Mikrokosmos verengt sich auf die überlastete Kleinstfamilie. Orientierungs-, Entdeckungs- und Entfaltungsmöglichkeiten bleiben auf der Strecke. Hypies verschaffen sich quasi mit ihrem Verhalten, was ihnen fehlt: Aufmerksamkeit und Bewegung.
In einer reizüberflutenden, leistungsorientierten Informationsgesellschaft ist es schwer, eine Nische zu finden, um ihre positive Mitgift - Fantasie, Kreativität, Begeisterungsfähigkeit, Empathie, Sensibilität, Tempo und Energie - zum Vorteil zu nutzen. Hypies, die dies schafften, haben es weit gebracht. Die Monroe, Steven Spielberg, Thomas Edison, John F. Kennedy, Bill Clinton, John Lennon, Harry Bellafonte, Wilhelm Busch, Astrid Lindgren, Bert Brecht, George Orwell - sie alle kämpf(t)en zeitlebens mit ADHS-Symptomen.
Wissenschaftler schätzen, dass 5 bis 12 Prozent der Weltbevölkerung von AD(H)S betroffen sind. Allein in Deutschland weisen bis zu 500.000 Kinder zwischen 6 und 18 Jahren starke Symptome auf. Das Syndrom gilt weltweit als häufigste psychische Störung im Kindes- und Jugendalter. Bei Mädchen dominiert die gestörte Aufmerksamkeit, bei Jungen die Zappelei. Auf drei bis sechs hyperaktive Buben kommt nur ein Mädel. Warum, ist offen. Jungs scheinen mit Umweltveränderungen schlechter klarkommen, reagieren körperlich an- und psychisch auffälliger, lernen am Beispiel des Vaters, Gefühle von Angst körperlich auszuagieren - oder sie zu unterdrücken.
Die typische überschießende Motorik gibt sich meist im Erwachsenenalter. Was häufig bleibt, sind Konzentrationsprobleme und Impulsivität. Sabine Bernau vom »Bundesverband AK Überaktives Kind« glaubt, dass bei zwei Dritteln der Kinder das Syndrom später »behandlungsbedürftig« fortbestehe. Sechs Prozent aller Erwachsenen leiden an mehr oder weniger starken Auswirkungen eines ADHS.
Stoffwechseldefekt oder Bindungsproblem?
Was macht nun ein Kind zu einem Hypie? »ADS-Kinder sind oft überdurchschnittlich intelligent und begabt, wo's um den Computer geht«, sagt Wolfgang Bergmann, »aber sie versagen, wo's ums Soziale und die Selbsteinschätzung geht«. Der klassischen Theorie zufolge soll ein angeborener Stoffwechseldefekt vorrangig schuld sein. Wegen eines Mangels an bestimmten Botenstoffen werde die Informationsverarbeitung im Arbeitsgedächtnis gestört; ständig strömten ungefiltert neue Informationen und Impulse ein - die Ursache für die Schwierigkeiten mit Konzentration, Planen, Emotionen, Prioritätensetzung.
Nach Untersuchungen, die kürzlich in der University of California an Los Angeles an 16 (!) ADS-Kindern vorgenommen wurden, stellten Wissenschaftler auch Größenunterschiede in bestimmten Gehirnregionen bei Hypies im Vergleich zu »normalen« Kindern fest. Betroffen seien, wie das Fachmagazin »The Lancet« berichtet, Bereiche, die die Aufmerksamkeit regeln und vor allem solche, die das impulsive Verhalten kontrollieren.
Wahrscheinlich geben Eltern ADHS an ihre Kinder weiter. Die Störung werde nicht durch ungünstige familiäre und soziale Bedingungen ausgelöst, sondern vererbt. Psychosoziale Belastungen und Stress aber beeinflussen die Ausprägung des Syndroms. »Erst die Kombination aus genetischer Disposition und Sozialisation führt am Ende zum manifesten Verhaltens- bzw. Persönlichkeitsstatus«, betont Hans Biegert, der in Bonn eine Privatschule für Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen leitet.
An genetische Ursachen und Botenstoffmangel mag Gerald Hüther, Hirnforscher an der Universität Göttingen, nicht glauben. Seine These: »Je häufiger Kinder während der frühen Kindheit in Verunsicherungen und Erregungszustände hineingeraten, desto schlechter bilden sich diejenigen Strukturen im Hirn aus, die als Reizschutzfilter im Frontalhirn dazu beitragen, dass man mit Verunsicherungen umgehen kann«. Der beste Schutz dagegen seien Bindungen, die Sicherheit bieten: »Das Kind muss die Überzeugung entwickeln, dass es zwar viel Beängstigendes, Bedrohliches, Verwirrendes, Verunsicherndes gibt, aber dass da jemanden ist, der ihm hilft, sich in dieser verrückten Welt zurechtzufinden«.
Bergmann weiß aus der täglichen Praxis: »Die Entwicklung der Selbstliebe des Kindes wird in den Anfängen gestört und setzt sich dann krisenhaft fort«. Nach dem Hüther'schen Modell wäre Prävention möglich, etwa indem man die Mutter-Kind-Beziehung stabilisiert. Nach der klassischen Theorie kann es keine Prävention geben, da das Syndrom erblich ist.
Pillen für den Zappelphillip
Ist ein Botenstoffmangel im Hirn die Hauptursache, liegt das Eingreifen in den Stoffwechselprozess nicht so fern. Seit 1954 werden Psychostimulanzien in Deutschland verordnet, von Jahr zu Jahr mehr, vor allem Methylphenidat, bekannt u.a. als »Ritalin«. 50.000 Kinder schlucken hierzulande das Mittel. Stimulanzien führen »bei etwa 90 Prozent der Betroffenen zu einer erheblichen Verbesserung«, schreibt der Kinder- und Jugendpsychiater Götz-Erik Trott - was aber nicht einen Botenstoffmangel beweise, kritisiert amerikanische Psychologe Richard DeGrandpre. Kein Mensch würde aus der Wirkung von Aspirin bei Kopfschmerzen einen Aspirin-Mangel ableiten.
Wie schnell und häufig Stimulanzien verordnet werden, beobachten Kritiker wie Bergmann mit Sorge. Das verstelle den Blick auf mögliche psychische Ursachen: »Sobald die Kinder schwierig werden, kriegen sie eine Pille. Ritalin wird in einer Weise verordnet, die ein Ausdruck von Kinderfeindlichkeit ist.« Hüther hält Medikamente erst für angezeigt, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, dann seien sie »eine Krücke, die dem Kind verordnet wird, damit es laufen lernen kann - mit dem Ziel, die Krücke wieder loszuwerden«.
Ist ein Kind in seinen Leistungen und psychosozial deutlich beeinträchtigt und damit in seiner Entwicklung gefährdet, ist Klaus Skrodzki von der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte (AG ADHS) eine medikamentöse Therapie »zwingend indiziert«. Es sei die wirkungsvollste Therapie, »sowohl für die Akutsituation, als auch zur Vorbeugung und Verhinderung von Unfällen, von Sucht und Kriminalität«. Richtig angewendet würden Psychostimulanzien nicht nur nicht süchtig machen, sondern sogar vor späterem Suchtverhalten schützen können. Auch ein erhöhtes Risiko für eine spätere Parkinsonkrankheit sei nicht durch Studien belegt. Doch was die Langzeitwirkungen von Ritalin angeht, besteht deutlicher Forschungsbedarf.
Und die Nebenwirkungen? Sie »sind gering und bei der Schwere der Störung zu vernachlässigen« steht auf den Internetseiten der AG ADHS. Doch selbst wenn Appetitmangel, Schlaflosigkeit, Magen-, Kopfschmerzen und Tics »im Allgemeinen leichter und vorübergehender Natur« sind, so der amerikanische Professor Thomas E. Brown, herrscht Konsens darüber, dass Ritalin weder an die Ursache geht, noch ein Allheilmittel ist. Neuhaus glaubt, weit mehr Kinder müssten mit Medikamenten unterstützt werden - aber wohlgemerkt im Rahmen eines »multimodalen ressourcenorientierten Behandlungsansatzes«.
Kinder brauchen Strukturen
Denn die »Pille« allein ist keinesfalls die Lösung. Hypies und ihren Eltern muss auf verschiedenen Ebenen und individuell mit maßgeschneiderten Therapiekonzepten geholfen werden, etwa in Kombination mit einer Verhaltenstherapie und psychosozialer Unterstützung der Familie. Was die Kinder brauchen, sind Strukturen, feste Regeln und Grenzen - keine ständige Erklärungen, Bitten, Vorwürfe, Strafen, sondern »Konsequenz in Form von liebevoller Sturheit«, sagt Cordula Neuhaus. Der Ton muss freundlich, kurz-knapp-bestimmt, die Vorgaben müssen klar sein. Die ideale seelische Betreuung sind nach Bergmann »Handwerksmeister, die mit beiden Beinen auf dem Boden stehen und einem Jungen sagen, wie er es machen muss«.
Eltern müssen versuchen, einen möglichst gleichmäßigen, einschätzbaren Tagesablauf zu strukturieren. Das sei schwierig für einen Elternteil, »der selbst Gefühlsabstürze, kein Zeitgefühl hat, impulsiv, einfach auch mal erschöpft ist oder die Faxen dicke hat«, sagt Neuhaus. Anleitung von Fachleuten und Elterntraining tut da Not. Wichtig ist es zu lernen, das Verhalten der Kinder aus einem neuen Blickwinkel sehen, sie positiv zu bestärken statt auszuschimpfen, zu ermutigen statt zu ermahnen, zu sagen, was sie tun, nicht was sie lassen sollen.
Fürchten Eltern, ihr Kind ist ein Hypie, sollten mit einem Arzt ihres Vertrauens bzw. mit der nächsten Elterninitiative Kontakt aufnehmen. Erfahrene Kinder- und Jugendärzte suchen die Zusammenarbeit mit Lehrern, Erziehern und Betreuern. Sie ziehen, wenn nötig, Kinderpsychiater oder -psychotherapeuten hinzu. Je früher die Diagnose gestellt und das Problem angegangen wird, umso besser. »Nichts ist so katastrophal wie weichzuzeichnen und zu bagatellisieren«, warnt Cordula Neuhaus, »denn dann rennt das Kind in die Katastrophe, wenn es in die Schule kommt.«
»Die« Therapie für Hypies gibt es nicht. Verhaltensmanagement kann schon viel auffangen. Aber es genügt weder, dem Kind nur genügend Möglichkeiten zum Toben zu geben, noch es zum Entspannen anzuleiten. Neuhaus: »In der ADHS-Therapie steht und fällt die Behandlung mit der guten Beratung der Bezugspersonen, die dann nicht nur Eltern sind, sondern auch Lehrer und Erzieher«.
Ideal ist eine Therapie aus verschiedenen Therapiebausteinen, etwa mit psychologischen, sozialpädagogischen, heilpädagogischen Elementen.
In einer Verhaltenstherapie lernen Eltern und Kind, sich angemessen zu verhalten, mit ihrer Lebenssituation besser zurechtzukommen; das Kind wird angeleitet, sich und seine Handlungen bewusster wahrzunehmen und zu kontrollieren. Bei Schwierigkeiten mit dem Lesen, Schreiben, Rechnen können Lerntherapeuten helfen - konventionelle Nachhilfe versagt meist. Sehr positiv ist der Umgang mit Tieren, etwa im therapeutischen Reiten. Auch Ergotherapie, Logopädie, therapeutisches Trommeln oder Trampolinspringen in der Psychomotoriktherapie können Bausteine in einem ganzheitlichen Therapiekonzept sein.
Ein weitgreifender Ansatz ist besonders wichtig, wenn noch ein weiteres Störungsbild auftritt, was leider häufig der Fall ist. Bei zwei von drei Hypies kommen noch hinzu: oppositionelles Verhalten, Depressionen, Aggressionen, Angst- und Zwangserkrankungen, Lern- und Teilleistungsschwächen, Sprach- und Sprechstörungen, Allergien, Neurodermitis, Rheuma, Diabetes, Mucoviszidose, Anfallsleiden, Bettnässen und die Tic-Störung. Cordula Neuhaus bringt es auf den Punkt: »Es ist ein Hochrisikofaktor, ADHS zu haben«.
Doch da gibt es auch noch die anderen Seiten der Kinder: hohe soziale Kompetenz, hervorragende sportliche Leistungen, Hoch- und Höchstbegabungen, große Hilfsbereitschaft und Einfühlsamkeit, originelle Köpfe, was Problemlösungen angeht und und und… Ein Ziel sollte daher in Schule, Alltag und Therapie immer im Auge behalten werden: die Stärken dieser Kinder als Entwicklungspotenziale einzusetzen und sie im Gefühl zu bestärken, ihr Leben in Kontrolle zu haben. Hypies, sagt Wolfgang Bergmann, »bleiben immer gefährdete Menschen, die nur auf Risiko und Kante gehen, die das Optimale, aber auch das totale Risiko suchen, die vom Absturz bedroht sind, aber auch Menschen, die sozial integriert ein spannendes Leben leben können.«
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