Spatzenliebe

Spatz steht Kopf Spatz im Spiegel

Vom Balkon dringt ein fragendes Tschilpen in den Raum. Als es verstummt, folgen Klopfgeräusche. Erst zurückhaltend, allmählich energischer - es beginnt in kurzen Sequenzen zu hämmern. Stille, Pause. Dann erneutes Tschilpen, jetzt durchdringend, geradezu verzweifelt. Passer domesticus ist mit seinem Latein am Ende. Es will nicht in sein Spatzenhirn, warum sein Gegenüber, das jede Bewegung nachahmt, nicht zu einem gemeinsamen Ausflug zu animieren ist.

Wonnemonat Mai - die Zeit der Liebe. Und die macht bekanntlich blind. Ein Haussperling sitzt in einem Blumenkasten, der am Nordwestbalkon im dritten Stock eines Wohnhauses mitten im Stuttgarter Westen montiert ist. Der Spatz ist (un)glücklich verliebt. Seit Tagen bezirzt er nun schon die zauberhafte Gestalt in diesem merkwürdigen Rahmen im Blumenkasten - seine Entdeckung! Er springt auf dem Rahmen herum und schaut von oben herein. Er versucht, den Artgenossen zu befreien, pickt auf die trennende Wand ein, schaut hinter den Rahmen - hoppala, da ist ja nichts… Ratlos, aber zuversichtlich setzt er sich neben den treuen Kameraden, putzt sich - eine Übersprungshandlung! -, wird müde und macht ein Nickerchen, eng angekuschelt an den anderen.

Von Wellensittichen weiß man, dass sie sich unsterblich verlieben können in ihr Gegenüber, auch wenn's nur ein Spiegelbild ist. Und so ist's nun auch um das Spätzchen geschehen. Wer hätte gedacht, dass man einem kleinen Kerlchen so viel Herzeleid zufügen würde mit diesem viereckigen Kosmetikspiegel! Der stakt ja nur im Blumenkasten, weil Familie Meise wieder ihren Nachwuchs großzieht und klammheimlich beobachtet werden soll - und vom Zimmer aus lässt sich der Blick nur trickreich über eben jenen Spiegel zum Nistkasten lenken.

Die Meiseneltern lässt im übrigen das Schmachten des Spatzen, drei Meter Luftlinie von ihrem Appartement entfernt, völlig kalt. Sie sind im Futterbeschaffungsstress. Am Muttertag ist großer Familienausflug geplant, bis dahin muss der fiepsende Nachwuchs hochgepäppelt werden. Derweil ist Herr Spatz für die tschilpende Damenwelt verloren. Und vielleicht ist er ja gar nicht so unglücklich: Seine Herzensdame lebt im gleichen Rhythmus, macht alles mit, so lang's im Rahmen bleibt. Sie fällt ihm nicht ins Wort, und zänkisch wie so viele Spatzendamen ist sie schon gleich zweimal nicht. Da könnte manch anderer Gatte vor Neid erblassen.

P.S. Muttertag ist vorbei, und nach dem Kälteeinbruch ziehen es die Meisenjungen vor, noch ein wenig im gemütlichen, warmen Höhlen-Nest zu verbringen.

Der Spiegel-Spatz hat inzwischen das Balzen aufgeben müssen. Nachdem er begann, selbst gefiederte »echte« Spatzendamen zeternd zu vertreiben, wurde der Spiegel schweren Herzens entfernt, um zu verhindern, dass er sich seinen lebendigen Artgenossen völlig entfremdet.

Seither wurde der Kleine nicht mehr gesichtet. Nach ein paar Stunden des Suchens und Trauerns hörte man ein zunehmend fröhliches Tschilpen im Hof - zweistimmig!