Maja Langsdorff
Lieber rank und schlank als stark und sperrig
Ein persönliche Bilanz zu 25 Jahren Schlankheitsideal
Ganze 13 oder 14 Jahre war ich alt, da machte ich meine erste Abmagerungskur. Nicht, daß ich es besonders nötig gehabt hätte. Aber schon damals, hatte ich ein klares Berufsziel vor Augen, was seinen Tribut forderte: Ich wollte Ballettänzerin werden. Und mit meinen Babyspeckresten und dem gesunden Pausbackengesicht fehlte mir nun wirklich das typisch Durchscheinend-Zerbrechliche einer zarten Ballerina.
1975, wenige Jahre später - ich war inzwischen 18 - hatte ich schon eine stattliche Diätkarriere hinter mir: nichts, was ich nicht probiert hatte, von der Ananasdiät über die Eierkur bis hin zum Saftfasten. Trotzdem wog ich bei 1,68 Meter 55 Kilo. Mein Problem war, daß in Ballettkreisen etwas andere Maßstäbe und Kriterien gelten. Meine Größe war in Ordnung, aber für eine Ballettelevin war ich schlicht zu pummelig, dazu hatte ich die unglaubliche Schuhgröße 39,5! Ballettmeister lieben zierliche Füße.
Nun muß man wissen, daß Menschen, die sich für eine Laufbahn im klassischen Ballett entscheiden, dies nicht als Brotberuf ansehen, sondern als Passion - eine dieser berühmten Leidenschaften, die Leiden schaffen. Was Ballettänzer/innen verbindet und auszeichnet, ist ihre absolute Hingabe an ihren Beruf und die bedingungslose Selbstaufgabe für ihren Beruf. Ein Leben ohne Tanz ist für sie unvorstellbar.
Tänzer müssen neben Begabung, körperlicher Eignung, Musikalität, Kraft, Energie und Zähigkeit vor allem zweierlei mitbringen: Masochismus und die Bereitschaft, ihren Körper vollständig in den Dienst des Tanzes zu stellen. Es ist beim Ballett nicht anders als bei Eiskunstläuferinnen, Turnerinnen oder Gymnastinnen: Von sehr jungen Menschen, die engagiert, ehrgeizig und begeisterungsfähig sind, wird alles verlangt - ohne Rücksicht auf Verluste. Oft ist es ein Einsatz für die Kunst bis hin an die Grenze der körperlichen und psychischen Belastbarkeit. Nirgendwo spiegelt sich die Fixation westlicher Industriegesellschaften auf rigide Körper- und Schlankheitsideale drastischer und selbstverständlicher wider als in diesen Berufen und Sportarten, kaum irgendwo ist die Quote von Menschen mit krankhaften Essverhaltensstörungen höher.
Hier treffen nämlich zwei der Grundbedingungen für die Entwicklung eines gestörten Essverhaltens zusammen: der äußere Druck oder innere Zwang, den eigenen Körper nach einem vorgegebenen Ideal formen und »kultivieren« zu müssen. Und eine Persönlichkeitsstruktur, die geprägt ist von extremem Leistungswillen, Ehrgeiz, Selbstbeherrschung, Streben nach Perfektionismus und der Bereitschaft, sich bedingungslos anzupassen oder unterzuordnen. All dies findet man auch bei Menschen mit Magersucht und Ess-Brechsucht. Das Risiko, in körperorientierten und körperfixierten Berufen an Essstörungen zu erkranken, ist nicht von ungefähr deutlich erhöht. Viele Sportlerinnen und Tänzerinnen erhungern sich ihre Idealfigur. Schlankheitskuren und Diäten gelten als die Einstiegsdroge für Essstörungen, und zwar auch für »ganz normale« Menschen.
Nicht jede Tänzerin entwickelt Essstörungen, aber es gibt kaum eine, die nicht ihren natürlichen Instinkt durch kognitive Kontrolle ersetzt. Die Signale und Instinkte des eigenen Körpers zu überhören, ihn stattdessen zu kontrollieren und notfalls durch Hungerkuren dem gültigen Ideal anzupassen, ist ein ungeschriebenes Gesetz. Schizophren die Situation, mit den Gedanken ausgerechnet am häufigsten um das Thema zu kreisen, das im Alltag die geringste Priorität haben muß, am wenigsten ausgelebt werden darf: ums Essen. Das war auch lange mein Problem.
Ich trainierte bis zu acht Stunden täglich, und kämpfte doch ständig mit Gewichtsproblemen. Am Ende meiner Ausbildung paßte ich mit deformierten, stets dick verpflasterten und blutenden Füßen in filigrane Satinspitzenschühchen der Größe 37,5 und hatte ich mich auf erträgliche 52 Kilo heruntergehungert. Drei Kilo weniger, aber zu welchem Preis! Am eigenen Körper erlebte ich, wie fatal sich die permanente Hungerei auswirken kann. Mein Grundumsatz (die Energiemenge, die der Körper benötigt, um seine Funktionen aufrecht zu erhalten) war drastisch gesunken. Aß ich mehr als 600 Kilokalorien, nahm ich zu - ein »normaler« Mensch benötigt etwa 2000. Hätte ich meinen Bedürfnissen nachgegeben, hätte ich den Jo-Jo-Effekt erlebt: nach jeder Diät schwerer als zuvor.
Anfang zwanzig setzte ein Verkehrsunfall meinem Traum vom Ballett ein jähes Ende, und nicht nur ihm. Ich verlor damit auch jeden Ehrgeiz, mich beim Essen zu zügeln, nahm zu, und es war mir einfach egal, weil ich wußte, ich würde nie wieder tanzen können. Ohne dass ich groß darauf geachtet hätte, pendelte sich mein Gewicht allmählich wieder auf ein normales Niveau ein. Ich konnte wieder mehr essen, ohne sofort zuzunehmen, und dachte nicht mehr den ganzen Tag zwanghaft ans Essen, daran, was ich mir noch zugestehen durfte, wie lange ich noch durchhalten müsste, was ich am nächsten Tag essen könnte. Seither habe ich übrigens nie wieder eine Diät gemacht. Meine Waage habe ich stillgelegt, weil mir die Zahl zu meinen Füßen nichts über meine Leistungsfähigkeit, mein Wohlbefinden und meine Gesundheit verraten kann.
Heute weiss ich, dass schon damals viele meiner Tänzerinnenkollegen unter drastischen Essstörungen litten. Spätestens seit Lady Di sind Essstörungen populär, ja gesellschaftsfähig geworden. Und weil inzwischen klar ist, dass Essstörungen nichts mit Willensschwäche und Disziplinlosigkeit zu tun haben, überwinden auch Männer ihre Scheu und suchen Hilfe. Doch sie sind nur selten von Essstörungen betroffen. Bei beiden Geschlechtern gibt es zwar spezifische Berufsfelder, die Essstörungen begünstigen oder gar provozieren: Mannequins, Stewardessen, Tänzerinnen, Turnerinnen, Gymnastinnen, Skispringer, Jockeys... Aber es ist erwiesen, dass auch das weibliche Schlankheit- und Schönheitsideal eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von Essstörungen spielt.
Das weibliche Schlankheitsideal findet im Körperideal mancher Sportart eine spezifische, männliche Entsprechung. Von hier ist der Weg nicht weit bis zur krankhaften Fixation auf Figur oder Gewicht und Essen.
Selbstunsicherheit, Perfektionismus und starke Leistungsorientierung erhöhen noch das Risiko, über dem Streben nach dem Ideal eine Essstörung zu entwickeln. Das wiederum scheint zu beweisen, dass Essstörungen längst nicht immer nur seelisch bedingt sind und durch Störungen der frühen Mutter-Kind-Beziehung oder sexuelle Übergriffe ausgelöst werden. Sie haben auch viel mit Einflüssen und Druck von außen zu tun.
Bei Jungen und Männern lauert immer dann latent Gefahr, wenn ihr Erscheinungsbild von übergeordneter Bedeutung ist wie bei Skispringern, Models, Top-Modeverkäufern oder Managern. Auch das Männlichkeitsbild hat sich in den letzten Jahren gewandelt: Der Body muss makellos und muskulös, der Po knackig sein. Wer selbstunsicher ist, spricht besonders auf solche Schönheitsideale an. Das Äußere des Mannes gewinnt zunehmend an Bedeutung, es hat aber längst nicht den selben Stellenwert für das Selbstwertgefühl wie bei der Frau.
Denn traditionell definieren sich Männer mehr über ihren beruflichen Erfolg, ihre Macht, ihre Potenz, ihren Geldbeutel; Frauen dagegen über ihr meist als unperfekt empfundenes Äußeres - und sie werden auch nach wie vor primär über ihr Aussehen und ihren Körper beurteilt. Stark vereinfacht heisst das: Männer haben einen Körper, Frauen sind ihr Körper. Wenn unter dem äußeren Druck dann das Abnehmen zur fixen Idee wird, lenkt das von den eigentlichen Problemen ab: mangelnde Konfliktfähigkeit, Minderwertigkeitsgefühle, emotionale Schwierigkeiten, Versagensängste, die Unfähigkeit, nein zu sagen und die, eigene Bedürfnisse zu erkennen und durchzusetzen - normalerweise typisch weibliche Konfliktfelder.
Jungen und Männer haben in ihrer anderen Sozialisation und einer Erziehung, die mehr auf Aggression, Konfliktfähigkeit, Durchsetzungsvermögen, Härte und Männlichkeit abzielt, einen entscheidenden Schutzfaktor gegen Essstörungen. Weibliche »Qualitäten« wie Anpassungsfähigkeit, Einfühlsamkeit, Selbstlosigkeit, Weichheit begünstigen die Kompensation von seelischen Problemen durch süchtigen Umgang mit Essen und Hungern.
Der Schlankheitswahn beginnt meist in der Pubertät, dieser Irrglauben: alles ist möglich, alles ist machbar, wenn ich nur »okay« aussehe. Das unnatürliche Essverhalten beginnt schon in der Schule. Teenager lehnen heutzutage zwar, anders als damals meine Klassenkameradinnen und ich, Schlankheitsdiäten in aller Regel rundweg ab. Aufklärung hat bewirkt, daß inzwischen fast jedes Mädchen schon mal vom Jo-Jo-Effekt (abnehmen, zunehmen, wieder abnehmen, noch mehr zunehmen) gehört hat. Diäten sind also doof. Aber wie essen die 13-, 14jährigen heute? Sie machen keine Diät, sie leben häufig Diät, ohne sich dessen bewußt zu sein oder es gar beim Namen zu nennen.
Bei Workshops mit Mädchen lerne ich immer wieder zwei Formen problematischen Essverhaltens kennen. Eine Gruppe selektiert sehr genau in »gute« und »schlechte« Lebensmittel; gut ist alles, was schlank macht, schlecht alles, was im Verdacht steht, dick zu machen. Kartoffeln, Nudeln, Brot sind tabu, stattdessen gibt es Knäcke, Magerjoghurt und Salate. Was die andere Gruppe praktiziert, ist mindestens ebenso problematisch: Um nicht zuzunehmen oder um abzunehmen, ersetzt sie normale Mahlzeiten durch ihre Lieblingsnaschereien wie Schokotorte und Chips. Im Durchschnitt sind junge Mädchen heute wesentlich schlanker als wir vor 25 Jahren. Und trotzdem fühlen sie sich meistens noch immer zu dick. Die Figur aber ist Instrument für Ihre Selbstinszenierung.
Viele junge Mädchen erleben die Zeit der Pubertät, wenn sich der Körper zu verändern beginnt und sich weibliche Formen herausbilden, als faszinierend und beängstigend zugleich. Sie suchen nach Identität, nach Rollenmustern, nach Orientierung, nach Vorbildern, und die finden sie in Mädchenzeitschriften zweifelhafter Qualität wie »Bravo girls«, bei Top-Models oder bei Girly-Stars wie denen von TicTacToe. Über die Medien erleben sie tagtäglich, dass das Äußere einer Frau, besonders ihre Figur, über ihr Leben und ihre Karriere entscheidet: eine offene oder verschlüsselte Botschaft, über die nicht groß reflektiert wird.
Wer alt ist oder dick oder unsportlich, hat es in unserer oberflächlichen Leistungsgesellschaft schwer. Frau muß schon sehr selbstbewusst sein, um zu sagen: »Wenn Du Probleme mit meiner Figur hast, dann sind es Deine Probleme, nicht meine«. Dieses Selbstbewußtsein fehlt besonders jungen Mädchen, für die ein positives Echo von außen extrem wichtig ist. Das Schlankheitsideal setzt sie psychisch massiv unter, denn als Pummelchen fallen sie durchs Raster der erfolgreichen, schönen, perfekten Menschen, denen automatisch das Lebensglück winkt.
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